In jedem Leben geschieht es noch einmal, dass es sich bemüht, wiederzubeginnen wie mit Neugeburt: mit recht nennt das vielzitierte Wort die Pubertät eine zweite Geburt.
Lou Andreas-Salomé
Lou Andreas-Salomé, geborene Louise von Salomè (1861 – 1937), deutsche Schriftstellerin, Psychoanylytikerin
aus: „Lebensrückblick – Grundriß einiger Lebenserinnerungen“ von Lou Andreas-Salomé. Eine Autobiografie. Verlag: Niehans, Insel-Verlag, 1951
An den Bach
Was rauschst du vor mir dahin,
Du kühle, klare Fluth,
Von dieser Silberpappeln Grün
Beschirmt vor Sonnengluth?
Du eilst in jenes stille Thal,
Wo die drey Erlen stehn -
Ach dorthin, wo zum letzten Mahl
Ich Wilhelm jünst gesehn!
Es war ein schöner Frühlingstag,
So schön wird keiner mehr;
Im reinsten goldnen Licht lag
Die Gegend um uns her.
Die Sonne sank, ihr letzter Schein
hüllt' in ein Veilchenblau
Des Berges bewachten Gipfel ein,
Und schimmert' an der Au.
Da standen wir, du lieber Bach,
An deinem grünen Bord,
Und sahn dem Spiel der Wellen nach,
Und wagten nicht ein Wort.
Der Schmerz der nahen Trennung goß
MIr Schauer druch das Blut,
Und manch entschlürpftes Thränchen floß
Still in die kalte Fluth.
Da both er eine Rose mir,
Die er vom Strauche brach,
Ach, unbeschreiblich ist, was hier
Sein blaues Auge sprach!
Nun ist er fort, die Rosenzeit
Ich bin, die Blüthe leer -
Doch jenen Blick voll Zärtlichkeit
Vergess' ich nimmermehr!
Caroline Pichler
Klein-Skunks, das Stinktier
Zur Urwaldschule früh um neun
Gehn Pantherchen und Löwchen,
Klein-Stinktier und Jung-Warzenschwein,
Das Äffchen und das Schäfchen.
Der Lehrer Nashorn spricht: «Klein-Skunks,
Was sagt mir meine Nase?!»
Klein-Skunks erwidert: «Allerdungs!
Ich stink, doch nur zum Spaße.
Mein Fellchen ist ganz unbedingt
So rein wie eine Lilie.
Mein Vati stinkt, mein’ Mutti stinkt —
Das liegt in der Familie.»
Der Lehrer Nashorn bläht voll Zorn
Die dicken Backentaschen:
«Zum Stinken ist man nicht gebor’n!
Und jetzt wirst du gewaschen!»
Schuldiener Waschbär kam heran
Mit Brummen und Gekeife,
Und fing Klein-Skunks zu waschen an
Mit Bürste und mit Seife.
Das kleine Stinktier zeterte:
«Die Seife beißt mein Äuglein!»
Hopps! sprang es auf und kletterte
Happs! auf ein Palmenzweiglein.
Seither treibt sich Klein-Skunks herum,
Ein ungeschliffner Flegel,
Und spielt im Urwald dreist und dumm
Mit Kokosnüssen Kegel.
Doch wenn es das Wort «Schule» hört,
Pflegt es sich zu entfernen.
Wo man das Stinken ihm verwehrt,
Dort will es auch nicht lernen.
Moral: Das kleine Stinktier kann sich nicht helfen —
aber Ihr, liebe Kinder, lasst euch doch hoffentlich
brav waschen, bevor ihr in die Schule geht?
Peter Hammerschlag
Peter Hermann Hammerschlag (1902 – 1942, KZ Ausschwitz), österreichischer Schriftsteller, Dichter, Graphiker, Kabarettist.
Foto: Peter Hammerschlag (1902 – 1942)
auf dem Buchcover Peter Hammerschlag (1902 – 1942)
aus: „Gedichte“ von Peter Hammerschlag. P. b. b. Erscheinungsort Wien – Verlagspostamt 1090, Wien.
Lebenskranz.
In schweren Träumen lag ich diese Nacht,
Nur an das Eine hab' ich stets gedacht,
Des Dichters Wort: >Hab' einst in Jugendtagen
Wohl auf dem Haupte einen Kranz getragen.<
Mir aber war's ich träge fort und fort
In meinen Haaren Blumen, lang' verdorrt.
Die wilden Blüten erster Jugendzeit
Zu Rosen formten sich, voll Herrlichkeit,
Die rot und röter flammend mich umfingen,
Bis sie entblättert in den Dornen hingen.
Doch bald entsprossten diesen, gross und weiss,
>Fior' di Passion<, leuchtend, fieberheiss.
Weh' mir, auch sie verwelkten. Spitz und stark
Nur noch die Dornen stechen mir in's Mark, -
So Jahr um Jahr. An letzter Ruhestatt
Entkeimt daraus vielleicht ein Lorberrblatt.
Hermine von Preuschen
Hermione von Preuschen (1854 – 1918), deutsche Malerin, Dichterin
aus: „Via Passions: Lebenslieder“ von Hermine von Preuschen. Verlag von Carl Reissner, Dresden und Leipzig, 1895. Seite 14
Wenn ich dein Lachen höre
Wenn ich dein Lachen höre
und deiner Stimme Ton
und seh in deinem Auge
den holden Blick erlohn -
dann scheint es mir: auf Erden
gibt's mehr kein Herzeleid,
keine Scheiden, keinen Treubruch,
kein Bangen, keinen Neid.
Allein wenn deine Braue
sich furcht und heimlich bebt
und über deiner Stirne
ein düstrer Schatten schwebt -
dann scheint es mir: das Leben
ist voller Not und Pein,
das Leben, das uns malmet
wie Korn der Mühlenstein.
O schenke mir ein Lächeln,
o rede mir ein Wort
und scheuch aus meinem Herzen
die Furcht des Lebens fort!
O laß dein Auge strahlen
den alten holden Blick,
damit ich wieder glaube
an dieser Erde Glück!
Isabella Arkadjewna Grinewskaja
Leider sind die russischen Webseiten zur Zeit kaum zu erreichen und sehr unsicher. Sobald sich die Lage nicht ändert, kann ich nicht das Original auf russisch auf meine Webseite zeigen.
aus: „Russische Dichtungen. Ausgewählte Dichtungen“ Übertragen und mit biographischen Notizen versehen von Friedrich Fiedler. Druck und Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig, 1907. Seite 39
Frieden und Freiheit. Schießt mit Blumen und Liebe.
Lieder
Mit wunderholdem süßen Klang
Sagst du zu mir: "O meine Dichterliebe!"
Es ist dies Wort mir wie Gesang,
Wie frischer Ost verscheucht es meine Trübe.
Ich lechzte lang in meiner Nacht
Nach solcher Liebe, die ein Gott nur spendet,
Und gleich erhab'ner Göttermacht
Hast du den Fluch in Segen mir gewendet.
Ich liebe und ich bin geliebt -
Lenz, Leben, Lust sie kehren jubelnd wieder,
All jener Nebeldunst zerstiebt,
Und goldnen Strahls blickt Gottes Sonne nieder.
Mathilde Kaufmann
aus: „Dichterstimmen der Gegenwart“. Eine Sammlung vom Felde der deutschen Lyrik seit 1850. Herausgegeben von Karl Weller. Verlag: Hübner, Leipzig, 1856. Amara George. Lieder. Seite 128
Briefe
Ein Wörtlein! Schaut so klein sich an,
Daß es mein Mund bedecken kann,
Mein heißer, roter Mund.
Und birgt doch eine Welt für mich!
O Gott! Er schreibt: „Ich liebe dich!"
Das macht mein Herz gesund.
Ein Wörtlein! Sieht so winzig aus!
Und wankt um mich doch rings das Haus
Bei jedem Federstrich!
Und fliegt und bebt mir doch die Hand,
Als hielt' ich einen Feuerbrand!
"Ach, du! Und ich ..! Und ich ..!"
Frieda Jung
Anna Friederike Jung, geschiedene Brauer (1865 – 1929), ostpreußische Schriftstellerin, Heimatdichterin, Erzählerin in Niederpreußisch
aus: „Neue Gedichte“ von Frieda Jung. Fünfte Auflage Mit dem Bildnis der Dichterin Königsberg i. Pr. Verlag von Gräfe & Unzer o. J. 1916, Seite 5
Frieda Jung 1925, Federzeichnung von Emil Stumpp (1886-1941, Haftanstalt Stuhm / Sztum, Polen)
Flamme
Was sträubst du dich der süßen Glut,
die züngelnd schon dein Haupt versengt,
die liebeheißen Atems dich
mit Flammenarmen eng umdrängt?!
Die Glut bin ich - und du bist mein!
wirf ab, wirf ab das Alltagskleid:
gib deine ganze Seele hin
in ihrer nackten Herrlichkeit!
Umschlingen will ich glühend dich
und pressen dich ans heiße Herz,
die Kette schmelzen, die dich band,
in meinem Kuß wie tropfend Erz!
Und flüstern will ich dir ins Ohr
ein Wörtlein, zaub'risch wunderfein,
daß du nichts andres denken sollst,
als mich allein, als mich allein . . .
Clara Müller-Jahnke
Clara Müller-Jahnke, geborene Müller (1860 – 1905, deutsche Dichterin, Journalistin, Frauenrechtlerin
aus: „Gedichte“ von Clara Müller-Jahnke. Erstdruck der Gesamtausgabe, herausgegeben von Oskar Jahnke. Berlin (Buchhandlung Vorwäets, Hans Weber), 1910.
Textgrundlage ist die Ausgabe: Clara Müller-Jahnke: Gedichte, herausgegeben und illustriert von Oskar Jahnke (1858 – 1898) , Berlin: Buchhandlung Vorwärts, Hans Weber, [1910], Seite 169
Moderne Oden I
Nicht sank in Schwachheit unserer Sprache Kunst,
seitdem verhallt ist früher Heroen Schritt –
wir wandeln weiter ihre Bahnen
tönenden Fußes – und schauen lichtwärts.
Wir meistern, stolz nicht minder wie jene, noch
das Wort, und kunstreich meißelt die sichre Hand
aus deutscher Sprache reinstem Marmor
nimmer-vergänglicher Formen Schönheit.
Denn für der Menschheit heilige Güter schlägt
auch uns das Herz. Die fröhliche Flammenglut,
die ewig zu den Sternen deutet,
loht auch in uns von dem Grund der Seelen.
Wie Göttern einst der lockigen Hebe Hand
geschenkt den Nektar ewigen Jugendmuts,
so wollen wir in alten Schalen
reichen den schäumenden Wein der Zeiten.
Otto Erich Hartleben
Otto Erich Hartleben (1864 – 1905), deutscher Schriftsteller, Dichter, Übersetzer, Dramatiker
aus: „Ausgewählte Werke“ von Otto Erich Hartleben. Verlag: Berlin, S. Fischer, 1911. Moderne Oden I, Seite 10
Debutant
Kennst du die hohe, dunkle Gartenpforte,
Die ernst verschwiegen an der Straße steht?
Wohl niemand ahnte, welche süßen Worte
In ihrem Schutz der Abendwind verweht.
Dort trat ich ein; von freudigem Erwarten
Schwoll mir das Herz wie dem beschenkten Kind;
Ein leises Flüstern wehte durch den Garten
Von guten Geistern, die dort heimisch sind.
Auf schatt'ger Bank ließ ich mich zaudernd nieder
Und trank der Rose wollustschweren Duft;
Ob meinem Haupte knistert es im Flieder;
Zwei Vöglein zwitschern durch die Abendluft.
Wie aber ward mir, als du vor mich tratst,
Ein Götterbild aus fernen Griechenzeiten,
Als du bedeutungsvoll und lächelnd batst,
Dich tiefer in den Garten zu begleiten.
Dort wurde mir aus Abend und aus Morgen
Der erste Lebenstag, den ich gelebt -
O daß so lange mir das Glück verborgen,
Nach dem das Herz dem Knaben schon gebebt!
O, Ella, Ella, tausend Seligkeiten
In einen einz'gen Atemzug gedrängt;
Die Triebe aus der Menschheit frühsten Zeiten,
Von wonnekund'ger Götterhand gelenkt;
Der Kindheit ahnungsvolle, lose Spiele
Verwandelt in unendlichen Genuß;
O, Ella, alle himmlischen Gefühle
In einem einz'gen Liebeskuß -
Welch hohes Wort, das Menschengeist ersann,
Welch reicher Dank mag diese Stunde lohnen!
Laß ewig mich in deinem Garten wohnen,
Ist alles, was die Lippe stammeln kann.
In seiner Büsche stillem Heiligtum
Nahm ich, als Balsam jeder Erdenqual,
Von deinem Mund das heilige Abendmahl
Zum großen Liebesevangelium.
Frank Wedekind
Benjamin Franklin Wedekind (1864 – 1918), deutscher Dichter, Dramatiker, Schauspieler
aus: „Die vier Jahreszeiten -Gedichte“von Frank Wedekind. Verlag: Albert Langen Verlag für Litteratur und Kunst München, 1905. Frühling, Seite 14 – 15
Die Gedichte, die diese Blätter enthalten sind Bethe Marie Denk in Ehrerbietung zugeeignet.