Die arme Tochter an ihre schlafende Mutter

Jede Freude, die dich grüßet

Die arme Tochter an ihre schlafende
Mutter.

Schlummre sanft die Nacht zum Morgen,
Der ein neues Jahr dir bringt!
Und verschlummre deine Sorgen,
Die fast jeder Tag verjüngt!

Träume lieblich, und genieße
Eine lange leichte Nacht;
Denn dir warten Kümmernisse,
Wenn dein Auge wieder wacht!

Immer Arbeit, immer Grämen
Mußtest du zum Lebensloos
Von des Glückes Händen nehmen,
Dem sein Liebling sitzt im Schooß.

Jede Freude, die dich grüßet,
Schafft dein Herz dir fast allein,
Und dein Leben wird versüßet,
Wenn du Menschen kannst erfreun.

Trost zu seyn bey ihrer Klage,
Machst du dir zur schönen Pflicht;
Doch des Lebens Ruhetage
Kennest du noch selber nicht,

Lernst sie auch wohl nimmer kennen,
Bis dein gutes Herz dir bricht. —
Möcht' ich sie dir geben können!
Aber ach! das kann ich nicht.

Seiner Aeltern Alter pflegen,
Dieses höchste Lebensglück:
O, wie käme solcher Segen
Mir zu meinem Mißgeschick?

Das gehört zu meinen Träumen! —
Drum, o Mutter, schlaf nur hier!
Einmal unter Edens Bäumen
Magst du wachen für und für!

Caroline Louise von Klencke

Caroline Louise von Klencke (1754 – 1802), deutsche Dichterin, Schriftstellerin

Unter Myrtenzweigen

Du blickst dein Verlangen

Unter Myrtenzweigen
Beim Rieseln der Quelle
Und der Nachtigall Lied,
Auf sanftem Rasen
Durchwirkt mit Blumen,
Im duftenden Hain,
Gebogen die Äste
Von goldener Frucht
Und silberner Blüte,
Wo ewig blau der Himmel,
Ewig lau die Lüfte
Dich umwehen –

Das Mädchen im leichten Gewand
Tanzet den bunten Reihen,
Bricht die labende Frucht,
Schöpfet vom Quell.
Am Felsen ein Hüttchen
Mit weniger Habe,
Dort ruht es die Glieder
Auf reinlichem Lager.

Du blickst dein Verlangen
Ihr tief in das Herz,
Sie hat dich verstanden,
Und teilet die Glut.
Nichts wehrt dir die Küsse
Auf Lippen und Wangen;
Lilien und Rosen,
Blüten und Knospen,
 Alles ist dein.

Leicht wie der Westwind,
Scherzend wie er,
Berührst du die Blumen,
Und fliehest vorüber,
Schonend der zarten.
Wer fürchtet da Neid?
Wen lockt der Ruhm?
Zürnet die Mutter?
Das Lächeln kann sie
Doch nicht verbergen;
Denn eigne süße Schuld
Ruft die Tochter
Zurück ihr ins Herz.

Dorothea Schlegel

Dorothea Friederike Schlegel (1764 – 1839), deutsche Schriftstellerin, Literaturkritikerin