Die Möwe

In hoher Luft die Möve zieht

 Die Möve

In hoher Luft die Möve zieht
Auf einsam stolzen Wegen,
Sie wirft mit todesmuth'ger Brust
Dem Sturme sich entgegen.

Er rüttelt sie, er zerrt an ihr
In grausam wildem Spiele -
Sie weicht ihm nicht, sie ringt sich durch,
Gradaus, gradaus zum Ziele.

O laß mich wie die Möve sein,
Wie auch der Sturm mich quäle,
Nach hohem Ziel, durch Kampf und Noth:
Gradaus, gradaus, o Seele! 

Anna Ritter

Anna Ritter, geborene Nuhn (1865-1921), deutsche Schriftstellerin, Dichterin

Stille

Es schweiget Feld und See und Wald

Stille

Still, still, still!
Es schweiget Feld und See und Wald,
Kein Vogel singt, kein Fußtritt hallt;
Bald, bald
Kommt weiß und kalt
Der todte Winter
Über dich, Erde,
Und deine Kinder. 
Auch du wirst still,
Mein Herz; der Sturm, der sonst so wild
Dich rüttelt, schweigt. Ein jedes Bild
Verhüllt.
Ganz, ganz gestillt
Liegst du im Schlummer.
Es schweigt die Freude,
Es schläft der Kummer. 
Still, still, still!
Er kommt, er kommt, der stille Traum
Von einen. stillen kleinen Raum.
Kaum, kaum,
Du müder Baum,
Kannst du noch stehen.
Bald wird dich kein Auge
Mehr sehen.

Friedrich Theodor Vicher

Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Erzähler, Schriftsteller