Morgengedanke

Mein ruhig Herz und dieser stille Friede,

Morgengedanke 1761

Der Morgen dreht sein heitres Angesichte
Uns lächelnd zu, und weckt mit sanftem Lichte
Die Creaturen an den Tag hervor!
Der Sperling schwazt, die muntern Hähne krähen
Den Lobgesang, und aller Augen sehen,
Zu Gott, der sie ernährt, empor.

Auch ich bin wach, und meinem ersten Blicke
Befehl ich, daß er Dank zum Himmel schicke
Für diese Ruh, für diese sanfte Nacht!
Es ist ein Gott, der diese Welt regieret,
Der aus dem Staub mich wunderbar geführet,
Und der mir Freud und Freunde macht!

Es ist ein Gott! er sah oft meine Zähren,
Und hörte Kinder Brod von mir begehren,
Wann lange schon die Mittags-Sonne schien.
Sie sind dahin, die Tage meiner Plagen,
Und daß nach Brod nicht meine Sorgen fragen;
Dies will mein Gott, dies ist durch ihn

Mein ruhig Herz und dieser stille Friede,Der um mich herrscht, der keinen Tag mich müde
Von Arbeit, oder von Verdrusse, sieht;
Das sanfte Feur, das durch die Adern dringet,
Und dis Gefühl, das in mir denkt, und singet,
Das dank ich dem, der mich durch Güte zieht.

Ich heische nicht aus seinen vollen Händen
Ein grösser Glück. Nicht Reichthum soll er senden,
Nicht eiteln Ruhm und was ins Auge fällt.
Mein Mittelstand, der Rock, der reinlich kleidet,
Ein gnugsam Brod, genossen unbeneidet,
Dies sey mein Theil und bleib es in der Welt.

Anna Luise Karsch.

Anna Luise Karsch, geborene Dürbach (1722 – 1791), deutsche Dichterin, Schriftstellerin

Der Sperling

Auf der Heimkehr von der Jagd durchschritt ich die Gartenallee

Der Sperling

Auf der Heimkehr von der Jagd durchschritt ich die Gartenallee. Mein Hund lief vor mir her.

Plötzlich hemmte er seinen Lauf und begann zu schleichen, gleich als wittere er vor sich ein Wild.

Ich blickte die Allee hinunter und gewahrte einen jungen Sperling mit gelbgerandetem Schnabel und Flaum auf dem Köpfchen. Er war aus dem Neste gefallen – heftiger Wind schüttelte die Birken der Allee – und hockte unbeweglich, hilflos seine kaum hervorgesprossenen Flügelchen ausstreckend.

Langsam näherte mein Hund sich ihm, als plötzlich, von einem nahen Baume sich herabstürzend, der alte schwarzbrüstige Sperling wie ein Stein gerade vor seine Schnauze zu Boden fiel und völlig zerzaust, verstört, mit verzweifeltem, kläglichem Gezeter mehrmals gegen den scharfgezahnten, geöffneten Rachen lossprang. Er warf sich über sein Junges, um es zu retten, mit dem eigenen Leibe [31] wollte er es schützen … doch sein ganzer kleiner Körper bebte vor Schrecken, sein Stimmchen klang wild und heiser, Betäubung erfaßte ihn, er opferte sich selbst!

Als welch riesengroßes Untier mußte ihm der Hund erscheinen! Und dennoch hatte er nicht auf seinem hohen, sicheren Aste zu bleiben vermocht … Eine Macht, stärker als sein Wille, riß ihn von dort herab.

Mein Tresor hielt inne, wich zurück … Sichtlich begriff auch er diese Macht.

Schnell rief ich meinen verblüfften Hund zurück und entfernte mich, Ehrfurcht im Herzen.

Ja; lächelt nicht darüber. Ehrfurcht empfand ich vor diesem kleinen heldenmütigen Vogel, vor der überströmenden Kraft seiner Liebe.

Die Liebe, dachte ich, ist stärker als der Tod und die Schrecken des Todes. Sie allein, allein die Liebe erhält und bewegt unser Leben.

Iwan Sergejewitsch Turgenew

Iwan Sergejewitsch Turgenew – Иван Сергеевич Тургенев (1818 – 1883). russischer Dichter, Schriftsteller, Dramatiker, Erzähler

Leider sind die russischen Webseiten zur Zeit kaum zu erreichen und sehr unsicher. Sobald sich die Lage nicht ändert, kann ich nicht das Original auf russisch auf meine Webseite zeigen.

Die Fabel von dem Fuchs und dem Sperling

Die Fabel von dem Fuchs und dem Sperling sagt von einem, der anderen raten k onnte, aber sich selbst nicht.

Und das war so:

Es hatte eine Taube ihr Nest auf einer hohen Palme, und immer, wenn sie ihre Jungen ausgebrütet hatte mit großer Arbeit, kam ein Fuchs zu dem Baum und ängstigte sie mit Drohworten so, daß sie ihrer Jungen selbst herunterwarf, um vor ihm sicher zu sein. Einst saß nun die Taube wieder auf ihrem Nest und brütete, da flog ein Sperling auf einen Ast der Palme, und weil er die Taube so traurig sah, sprach er zu ihr: "Nachbarin, was läßt dich trauern, da doch bald deine Jungen ausschlüpfen?" Die Taube aber antwortete ihm "Was freuen mich meine Jungen. Sobald ich sie ausgebrütet habe, kommt der Fuchs und droht mir und bringt mich so in Furcht, daß ich ihm meine Jungen geben, um sicher vor ihm zu sein." Darauf sprach der Sperling: "Rennst du nicht den Trügner, den Fuchs? Folge meinem Rat, und er wird dir ferner nicht mehr schaden." Die Taube antwortete: "Rede, ich folge dir." Und der Sperling sprach: "Wenn der Fuchs kommt und dich schrecken will, so sage ihm: Tue, was du willst, und wenn du lernst, auf diesen Baum zu steigen, so tage ich meine Jungen auf einen andern, aber ich gebe sie dir nicht." Nach einiger Zeit kam der Fuchs, da er dachte, daß die Taube nun ihre Jungen ausgebrütet hatte, und drohte ihr wie immer. Aber die Taube antwortete ihm, was der Sperling sie gelehrt hatte. Da sprach der Fuchs: "Sage mir, wer dir diese Worte gewiesen hat, dann sollst du und deine Jungen sicher sein." Die Taube antwortete darauf: "Das hat der Sperling getan, der am Wasser wohnt." Darauf ging der Fuchs zu dem Sperling, grüßte ihn höflich und sprach: "Lieber Nachbar, wie magst du dich vor Wind und Regen schützen?" Der Sperling gab Antwort und sagte: "Wenn der Wind von der rechten Seite weht, wende ich das Haupt zur linken, und wenn er von der linken Seite weht, kehr ich das Haupt zur rechten und bin so sicher." Darauf fragte der Fuchs: "Wenn aber ein Wetter kommt, daß von allen Seiten Wind bringt, wie birgst du dich dann?" Der Sperling antwortete ihm, dann stecke ich mein Hupt unter die Fittiche. Da sprach der Fuchs: "Selig seid ihr Vögel, von Gott mehr als alle anderen Geschöpfe begabt. Ihr fliegt zwischen Himmel und Erde so schnell, wie kein Mensch und kein Tier laufen kann, und kommt überall hin, wo sonst niemand hingelangen kann. Dazu sollt ihr noch die Gnade haben, euer Haupt unter den Flügeln zu bergen, daß euch kein Ungewitter schaden kann. Das mag ich nicht glauben, ehe du mir es nicht zeigst." Und der Sperling wollte seine Kunst weisen vor dem Fuchs und steckte seinen Kopf unter die Flügel. Da sprang der Fuchs zu, ergriff ihn und sprach: "Du bist dir selbst ein Feind. Der Taube konntest du guten Rat geben, aber dir selbst kannst du nicht raten. Und dann fraß er ihn.