Die Raupe und der Schmetterling

Ein kleine Raupe lag

Die Raupe und der Schmetterling

Eine kleine Raupe lag,
In ihr Leichentuch gesponnen,
Tot im Angesicht der Sonnen,
Und es war der schönste Tag.

Ein schöner Schmetterling
Kam geflogen, setzte sich
Neben sie, und sagte: dich
Arme Raupe wird nun bald
Die allmächtige Gewalt,
Die dort oben strahlt, erheben;
Und, in schönerer Gestalt
Als du starbest, wirst du leben!
Ach! Ich will doch Achtung geben,
Wie du zu dem neuen Leben
Wirst hervor gehn!

Plötzlich warf
Sie die Schaal' ab, ließ sie liegen,
Und, der schöne Schmetterling
Sah den neuen Engel fliegen,
Wenn ich ihn so nennen darf.

J. W. L. Gleim

Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) deutscher Dichter, Sekretär, Fabeldichter, Schriftsteller, Aufklärer

Herbstbild

Die schönsten Früchte ab von jedem Baum

Herbstbild

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält,
Denn heute löst sich von den Zweigen nur,
Was von dem milden Strahl der Sonne fällt

Christian Friedrich Hebbel (1813 – 1863), deutscher Dichter, Dramatiker, Lyriker

Die Rosen

Und an der Sonne hingst

Die Rosen

Als du frühmorgens gingst
Und an der Sonne hingst,
Pflücktest du dir,
Die, von ihr angeglüht
Still vor ihr aufgeblüht,
Und nun den Duft versprüht,
Rosen zur Zier.

Hältst sie noch abends fest?
Schmeichelte dir der West
Längst sie nicht ab?
Siehst ja, ihr Leben schwand!
Wo ist der Farbenbrand?
Doch nur in deiner Hand
Sind sie im Grab.

Gib sie den Winden preis,
Daß sie mit ihnen leis
Düngen den Strauch.
Fühlt's nicht sogleich der Zweig,
Fühlt's doch die Wurzel gleich,
Und ist nur diese reich,
Wird er es auch!

Friedrich Hebbel

Christian Friedrich Hebbel (1813 – 1863), deutscher Dichter, Dramatiker, Lyriker

Wir glauben und wünschen

Which we believe and wish may then be done, When all blear eyes have quite put out the sun.

Wir glauben und wünschen, dass dies geschehen möge, wenn alle trüben Augen die Sonne erlöscht haben.

Thomas Fuller

Thomas Fuller (1608 – 1661), englischer Historiker, Schriftsteller, Autor, Kirchenmann

Die Harmonie der Liebe

Das mir tief im Herzen wogte

Die Harmonie der Liebe

Einst, vom Schlummer überwältigt,
Lag ich auf der weichen Matte,
Und im Traume nahte Phöbos,
In der Hand die Leier haltend.
Golden wiegten sich die Locken
Auf der hohen Götterstirne,
Und den Feuerblick des Auges
Seiner Sonne zugewendet,
Griff er mutig in die Saiten.
Da umrauschten Harmonien
Himmlisch meine trunknen Sinne,
Und das Lied des Götterjünglings
Strömte feurig durch die Glieder.
Plötzlich aber schwang der Sänger
Auf sich von der stolzen Erde,
Und den goldnen Sternen näher
Schwand das hohe Lied des Gottes,
Immer leiser, immer leiser,
Bis das Element des Einklangs
Sich in süßes Wehn verwandelt. -
Da erwacht' ich, und Apollo's
Liebe noch begierig lauschend,
Griff ich hastig nach der Leier.
Um den Nachhall meines Herzens
Auszuatmen in der Saiten
Süß berauschendem Getöne.
Doch ich suchte nur vergebens
Nach der Harmonie des Gottes,
Und der Saiten stimmte keine
Mit dem himmlisch reinen Liebe,
Das mir tief im Herzen wogte,
Finster starrt' ich in die Lüfte,
Und verwünschte meine Leier. -
Plötzlich aber weckten Küsse
Mich aus meinen düstern Träumen:
Leis' war Chloris hergeschlichen
Und verscheuchte schnell den Unmut
Durch das süße Spiel der Liebe. -
Ach, und jetzt in ihren Armen,
Ihr am liebewarmen Busen,
Strömte mir ein neues Leben,
Neue Kraft durch alle Glieder,
Und der Liebe süßster Einklang
Wogte mir im trunknen Herzen, 
Schöner, heiliger und reiner, 
Als das Lied des Götterjünglings

Carl Theodor Körner

Carl Theodor Körner (1791-1813) deutscher Freiheitskämpfer, Schriftsteller, Burgtheaterdichter in Wien, Verfasser patriotischer Lieder

Liebe Sonne, scheine wieder

Trockne ab auf allen Wegen

Liebe Sonne, scheine wieder

Liebe Sonne, scheine wieder;
Schein‘ die düstern Wolken nieder!
Komm mit deinem goldnen Strahlen
Wieder über Berg und Tal!.

Trockne ab auf allen Wegen
Überall den alten Regen!
Liebe Sonne, laß dich sehn,
Daß wir können spielen gehn!

Hoffman von Fallerleben

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798 – 1874), deutscher Dichter, Hochschullehrer, Herausgeber

Wenn die Sonne weggegangen

Wenn die Sonne weggegangen

Wenn die Sonne weggegangen,
Kommt die Dunkelheit heran,
Abendrot hat goldne Wangen,
Und die Nacht hat Trauer an.

Seit die Liebe weggegangen,
Bin ich nun ein Mohrenkind,
Und die roten, frohen Wangen,
Dunkel und verschlossen sind.

Dunkelheit muß tief verschweigen,
Alles Wehe, alle Lust,
Aber Mond und Sterne zeigen,
Was ihr wohnet in der Brust.

Wenn die Lippen dir verschweigen
Meines Herzens stille Glut
Müssen Blicke und Tränen zeigen,
Wie die Liebe immer ruht.

Clemens von Bretano

Clemens Wenzeslaus Bretano (1778 – 1842), deutscher Schriftsteller

Ruhm

Der Ruhm ist die Sonne

Der Ruhm ist die Sonne der Toten.

La gloire est le soleil des Morts.

Honore de Balzac

Honore de Balzac (1794 – 1850) französischer Schriftsteller, Philosoph

O wär‘ ich ein See

O wär‘ ich ein See, so spiegelhell

O wär‘ ich ein See

O wär‘ ich ein See, so spiegelhell,
Und du die Sonne, die ihm blickte!
O wär‘ ich ein klarer Wiesenquell,
Und du die Blume, die ihm nickte!

O wär‘ ich ein grüner Rosendorn,
Und du die Rose, die ihn schmückte!
O wär‘ ich ein süßer, süßer Korn,
Und du der Vogel, der es pickte.

Georg Friedrich Daumer

Georg Friedrich Daumer (1800 – 1875), deutscher Lyriker, Religionsphilosoph

aus: ‚Hafiz – Eine Sammlung persischer Gedichte‘ nebst poetischer Zugabe aus verschiedenen Völkern und Ländern. 1. Auflage 1856, Hoffmann & Campe Verlag

Hafis. Eine Sammlung persischer Gedichte. Nebst poetischen Zugaben aus verschiedenen Völkern und Ländern. Hoffmann & Campe, Hamburg 1846

Schaue immer in Richtung der Sonne

und alle Schatten werden hinter dich fallen

Schaue immer in Richtung

Schaue immer in Richtung der Sonne – und alle Schatten werden hinter dich fallen.

Walt Whitman

Walt Whitman (1819 – 1892) US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter, Schriftsetzer, Lehrer, Essayist

aus: Versgesang aus: Walt Whitmans Werke, ‚Gesang von mir Selbst‘ . S. Fischer Verlag Berlin, 1919, 2. Band. Übertragung: Hans Reisiger (1884 – 1968)

‚Gesang mit mir selbst‘, übersetzt aus dem Amerikanischen ins Deutsche von Max Hayer. Verlag Leipzig und Wien. Wiener Graphische Werkstätte, 1902.