Eine kleine Ballade Sie wohnte vier Treppen, Er unten im Keller, Und beide hatten sie keinen Heller. Wohl litten sie nicht Hunger und Not, Doch was sie verdienten mit ehrlichem Sinn, Das reichte so gerade zum Leben hin. Jung waren sie beide und lebensfroh, Machten sich weiter keine Sorgen. Kam heute das Glück nicht, kam’s wohl morgen. Kehrten arbeitsmüd’ sie am Abend heim, So schauten beide zum Fenster hinaus Und sahen nach dem Glücke aus. Aus dem Dache sah sie, Aus dem Keller sah er, Und mancher Seufzer flog hin und her. An einem heissen Maientag Sprach er sie schüchtern drunten an, Als sie die Treppen zu steigen begann. »Da oben ist’s wohl jetzt schön heiss?« »Ja,« lacht sie, »ja, der Sonnenschein Heizt etwas stark mein Zimmerlein.« »Und zu mir kommt gar keine Sonne herein.« »Nun,« meint sie mit einem fröhlichen Nicken, »Ich werd’ etwas Sonne hinunterschicken.« »Dürfte ich sie nicht holen kommen?« »Nein, i bewahre!« Und im Lauf Rennt sie die vier Treppen hinauf. – – – Doch seltsame Dinge geschehen im Mai, Am selben Abend, der Mond schien herein, Holte er noch seinen Sonnenschein. Alice Berend
Alice Berend (1875 – 1938), deutsche Schriftstellerin
Bildnis: Alice Berend (1875 – 1938)
Portät von Maler Emil Wilhelm Stumpp (1886 – 1941)
Selbstporträt Emil Wilhelm Stumpp (1886 – 1941)