Heilig Geliebter du!
Es thront ein Bild im Heil'genschrein
Und schirmt des Hauses Ruh',
So thronst du tief im Herzen mein,
Heilig Geliebter du!
Wohl brandet an der Seele Port
Versuchung sonder Ruh',
Du schirmst mich treu, mein Schutz und Hort,
Heilig Geliebter du!
Und in die bange Seele kehrt
Auf's Neue Glück und Ruh',
So bin ich dein und deiner werth,
Heilig Geliebter du!
Minna Kleeberg
Minna Kleeberg , geborene Cohen, (1841 – 1878), deutsch-amerikanische Dichterin
aus: „Gedichte“ von Minna Kleeberg. Louisville: Henry Knöfel New-York Willmer u. Rogers News Co. 1877. Seite 114 – 115
Liebe
In kindlicher Seele
erdämmert die Liebe,
wie Grünes der Erde
im Frühling entkeimt.
Im Herzen der Jungfrau
da knospet die Liebe,
von künftiger Herrlichkeit
sinnend sie träumt.
Bis daß sie im Herzen
des Weibes entfaltet
zu üppigster Blüte
19berauschend erprangt.
Im Herzen der Mutter
zur edelsten Reife,
zur Krone des Alls,
zur Vollendung gelangt
Clara Müller-Jahnke,
Clara Müller-Jahnke, geborene Müller (1860 – 1905, deutsche Dichterin, Journalistin, Frauenrechtlerin
aus: „Gedichte“ von Clara Müller-Jahnke. Erstdruck der Gesamtausgabe, herausgegeben von Oskar Jahnke. Berlin (Buchhandlung Vorwäets, Hans Weber), 1910.
Textgrundlage ist die Ausgabe: Clara Müller-Jahnke: Gedichte, herausgegeben und illustriert von Oskar Jahnke (1858 – 1898) , Berlin: Buchhandlung Vorwärts, Hans Weber, [1910], Seite 14
Flamme
Was sträubst du dich der süßen Glut,
die züngelnd schon dein Haupt versengt,
die liebeheißen Atems dich
mit Flammenarmen eng umdrängt?!
Die Glut bin ich - und du bist mein!
wirf ab, wirf ab das Alltagskleid:
gib deine ganze Seele hin
in ihrer nackten Herrlichkeit!
Umschlingen will ich glühend dich
und pressen dich ans heiße Herz,
die Kette schmelzen, die dich band,
in meinem Kuß wie tropfend Erz!
Und flüstern will ich dir ins Ohr
ein Wörtlein, zaub'risch wunderfein,
daß du nichts andres denken sollst,
als mich allein, als mich allein . . .
Clara Müller-Jahnke
Clara Müller-Jahnke, geborene Müller (1860 – 1905, deutsche Dichterin, Journalistin, Frauenrechtlerin
aus: „Gedichte“ von Clara Müller-Jahnke. Erstdruck der Gesamtausgabe, herausgegeben von Oskar Jahnke. Berlin (Buchhandlung Vorwäets, Hans Weber), 1910.
Textgrundlage ist die Ausgabe: Clara Müller-Jahnke: Gedichte, herausgegeben und illustriert von Oskar Jahnke (1858 – 1898) , Berlin: Buchhandlung Vorwärts, Hans Weber, [1910], Seite 169
Die Seele ermattet über dem ewigen Einerley. Man stirbt zehn Jahre früher, als man nöthig gehabt hätte, und bildet sich ein: die menschliche Liebe gekannt zu haben, wenn man eine einzige ihrer tausendfältigen Nuancen kaum halb ergründet hat.
Karoline Auguste Fischer
Caroline Auguste Christiani, geborene Venturini (1764 – 1942), deutsche Schriftstellerin, Dichterin, Frauenrechtlerin, Hofmusikerin. Pseudonym: Caroline Auguste Fischr
aus: „Vierzehn Tage in Paris“ von Caroline Auguste Fischer . Von dem Verfasser von Gustavs Verwirrungen. Verlag: Leipzig, Heinrich Graff, 1801. Siebenter Tag
Du meine Seele, du mein Herz
Du meine Seele, du mein Herz,
Du meine Wonn', O du mein Schmerz,
Du meine Welt, in der ich lebe,
Mein Himmel du, darein ich schwebe,
O du mein Grab, in das hinab
Ich ewig meinen Kummer gab!
Du bist die Ruh', du bist der Frieden,
Du bist der Himmel mir beschieden.
Daß du mich liebst, macht mich mir wert,
Dein Blick hat mich vor mir verklärt,
Du hebst mich liebend über mich,
Mein guter Geist, mein bess'res Ich!
Friedrich Rückert
Freimund Raimar (1788 – 1866),, deutscher Dichter, Lyriker und Übersetzer arabischer, hebräischer, indischer, persischer und chinesischer Dichtung
aus: „Liebesfrühling“ von Friedrich Rückert. Verlag: J. D. Sauerländer’s Veralg, 1880. Erster Strauß, Erwacht. III. Seite 6
Das graue Lied
Warum wird mir so dumpf und düster doch,
So matt und trüb um die beengte Seele,
Wenn ich an einem grauen Nachmittag
An meinen Büchern mich vergeblich quäle, –
Wenn wie ein aschenfarbiges Gewand
Der Himmel hängt ob den verschlafnen Auen
Und weit und breit von dem geliebten Blau
Nicht eine Spur das Auge kann erschauen?
Ein Geiglein tönt aus einem fernen Haus,
Man hört es kaum, gefühlvoll thät' es gerne,
Gezognem Weinen eines Kindes gleich
Mit dünnem Klang langweilig in die Ferne.
Kein Lüftchen geht, kein Grün bedeckt die Flur,
Der Lenz ist da, doch will's ihm nicht gelingen,
Die alten Streifen winterlichen Schnee's
In Wald und Graben endlich zu bezwingen.
So öd und still! Das schwarze Vöglein nur,
Das frierend sitzt auf jenes Daches Fahnen,
Zieht langgedehnten traur'gen Laut hervor,
Als wollt' es an ein nahes Unglück mahnen.
Ich weiß es wohl, solch grauer Nachmittag
Ist all mein Wesen, all mein Thun und Treiben.
Nicht Wehmuth ist's, nicht Schmerz und auch
nicht Lust,
Das Wort spricht's nicht, die Feder kann's nicht schreiben.
Mir ist, als war' ich selber Grau in Grau,
Zu viel der Farbe scheint mir selbst das Klagen,
Ob Leben Nichts, ob Leben Etwas ist,
Wie sehr ich sinne, weiß ich nicht zu sagen.
Friedrich Theodor Vicher
Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Schriftsteller
aus: „Lyrische Gänge“ von Friedrich Theodor Vicher. Verlag: Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt, 1882. Jugendjahre, Seite 7 – 8
Dass Eltern und Kinder vermöge ihrer Naturverhältnisse
Dass Eltern und Kinder vermöge ihrer Naturverhältnisse wie ein Herz und eine Seele sein sollten.
Johann Heinrich Pestalozzi
Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827), Schweizer Pädagoge, Sozialreformer
aus: „Pestalozzi’s sämtliche Werke“ von Johann Heinrich Pestalozzi. Verlag: A. Müller, Brandenburg a. H. Dreizigste Abendstunde, Wiederholung, Seite 360
Nebel am Wattenmeer
Nebel, stiller Nebel über Meer und Land.
Totenstill die Watten, totenstill der Strand.
Trauer, leise Trauer deckt die Erde zu.
Seele, liebe Seele, schweig und träum auch du.
Christian Morgenstern
Christian Morgenstern (1871 – 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer
aus: „Melancholie – Gedichte“ von Christian Morgenstern. Verlag: Bruno Cassirer, Berlin, 1921. Seite 12
Geübtes Herz
Weise nicht von dir mein schlichtes Herz,
Weil es schon so viel geliebet!
Einer Geige gleicht es, die geübet
Lang ein Meister unter Lust und Schmerz.
Und je länger er darauf gespielt,
Stieg ihr Wert zum höchsten Preise;
Denn sie tönt mit sichrer Kraft die Weise,
Die ein Kundiger ihren Saiten stiehlt.
Also spielte manche Meisterin
In mein Herz die rechte Seele,
Nun ist’s wert, dass man es dir empfehle,
Lasse nicht den köstlichen Gewinn!
Gottfried Keller
Gottfried Keller (1819 – 1890), Schweizer Dichter, Politiker, Schriftsteller, Dramatiker
aus: „Gedichte“ von Gottfried Keller. Verlag: Haessel, Leipzig, 1923. Vermischte Gedichte Seite 79