Wunder

Daß die lauen Abendwinde

Wunder

Daß die Lerchen wieder singen,
Daß sich Schmetterlinge schwingen,
Gelb und schwarz mit goldnem Saum,
Daß sich grüne Gräser treiben,
Auch nicht eins zurück will bleiben,
Man glaubt es kaum.
 
Daß sie bricht, die starre Binde,
Daß die lauen Abendwinde
Knospen zieh'n aus Busch und Baum,
Daß die Amsel tiefe, volle
Töne durch die Wälder rolle,
Man glaubt es kaum.
 
Daß man durch die Luft, so milde,
Kinderschaaren, liebe wilde,
Jauchzen hört im fernen Raum –
Lang im dumpfen Haus gesessen,
Aber schnelle, schnell vergessen –
Man glaubt es kaum.
 
Und es will mich immer fragen,
Mir in's Ohr ein Wörtlein sagen,
Und es ist mir wie im Traum,
Daß ich selbst vor Jahren, Jahren
Spielte mit den Kinderschaaren,
Man glaubt es kaum.

Friedrich Theodor Vicher

Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Schriftsteller

Seidenspinner

Ich maß den Berg mit meinem Blick

Seidenspinner

Ich maß den Berg mit meinem Blick und sprach:
                        "Ich werd's erreichen!"
Dann faßt' ich einen heiligen Entschluß
                        niemals zu weichen.
Daß ich am Wege Leichen liegen seh',
                        soll mich nicht hindern.
Und weder Müh noch Not noch Mißerfolg
                        den Eifer mindern.
- Dornen und Spott und Haß verletzten mich
                        und rissen Wunden.
"Droben am Gipfel, in der Siegesluft
                        werd' ich gesunden."
Dummheit in eklen Haufen, dick und zäh
                        sperrte die Pforten.
Da wusch ich mich und öffnete mir Bahn
                        an reinern Orten.

Ich stürzt' am Ziel, fragt nicht, wie das geschah,
                        in eine Falle.
Da waren eines einz'gen Mals zerschellt
                        meine Hoffnungen alle.
Das Herz betrübt, der Mut geknickt, gelähmt
                        des Geistes Schwingen,
Und keine Willensstärke reichte mehr
                        den Sieg zu zwingen.
Da lag ich nun im Grab und konnte nicht
                        die Glieder rühren
Und ohne Schmerzen nicht mein eigen Selbst
                        denken und spüren.
Ob meinen Häupten sah ich schön und groß
                        das Leben blenden;
So weh' mir's tat, ich mochte nie davon
                        die Blicke wenden.

Es kroch zu mir ein Vögelein und sprach:
                        "Darf ich dich lieben?"
Da drückt' ich beide Augen zu und stöhnte:
                        "Nach Belieben."
Sie fühlt' und litt all meinen Kummer mit
                        tief im Gemüte,
Verzieh mir jedes, trug und duldet' es
                        mit Weibesgüte.
- "Wie kann ich einst, du gutes Vögelein,
                        dir dieses lohnen?"
Da schmeichelt' und begehrte sie:
                        "Allein um dich zu wohnen!"
Daß ich an ihr vorbei nach oben sah,
                        dient ihr zum Neide;
Und einen Namen nannt' ich oft im Traum
                        zu ihrem Leide.
Sie spann um mich ein feines Seidenhaus,
                        die Welt zu schließen
Und ohne fremde Augen mein Geseufz
                        auszugenießen.

Schon hatte sie mit Fleiß und viel Geduld
                        und Mut und Dauer
Das Haus versperrt, und blieb allein ein Spalt
                        im Dach der Mauer,
Da schaute sie auf meinem Angesicht
                        Verzweiflung stehen
Und sah mich heimlich nach dem lichten Spalt
                        den Hals verdrehen.
Plötzlichen Eifers eilte sie geschwind
                        und kurz entschlossen
Und riß mit hast'ger Arbeit wieder ein,
                        was sie verschlossen.
Und als nun neuerdings das böse Licht
                        blendete offen,
Lächelte sie mit innigem Liebesblick:
                        "Hab' ich's getroffen?"

Da rief ich heftig: "Komm doch einmal her!
                        laß dir bekennen:
Ich will mich fortan deinen schlechten Knecht,
                        dich meinen Engel nennen!" 

Carl Spittlerer

Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem