Mütterchens Traum Wär ich reich, hätt' ich Geld, Mir gehörte die ganze Welt! Müsste jeden Tag vierspännig fahren, Ein Heer von Dienern um mich scharen, Thät mir einen Palast erbauen Und nichts thun, als zum Fenster hinausschauen; Ein goldnes Bett müsst ich besitzen Und lauter Röcke von echten Spitzen Und lauter Teller von Edelsteinen Und einen Koch, einen recht feinen, - Mir gehörte die ganze Welt, Wär ich Reich, hätt ich Geld. Seh ich die harten Thaler fliegen, Die in den Kammern der Reichen liegen Und wir haben kaum ein Stück Brot zu beissen, Will mir schier das Herz zerreissen. Seh ich die Leute auf allen Gassen Mit frohen Gesichtern und vollen Kassen, Seh ich die schön gekleideten Frauen, Die kaum nach unsereinem schauen, Seh ich die Läden voll Silber und Gold: Und an den lieben Gott nimmer denkt, Der uns kaum einen kurzen Sonntag schenkt. Hab' einen guten Schatz in der Stadt; Oft kommt er abends sterbensmatt Und zählt mir ein paar Groschen hin Von seinem spärlich Wochengewinn, Oder ein Bröschlein oder ein Tuch, Oder kölnisches Wasser für den Geruch, Da steck ich dann die Nase hinein Und denke: lieber Gott, reich lass mich sein, Dass ich auch meinem Schatz was kaufen kann, Denn er ist so ein gutherziger Mann. Und sind wir auch nicht kirchlich getraut, Bin ich ihm doch eine treue Braut. Wär ich reich, hätt' ich Geld, Mir gehörte die ganze Welt! Linchen kriegte ein neues Kleid, Das rote wird ihr zu kurz mit der Zeit, Lieschen braucht ein Jacket schon lange, Das Mädel wächst wie eine Bohnenstange, Der Vater bekäm ein Pfeifenrohr Und ein gemaltes Schild überm Thor: Christian Kurz, Damenschuhfabrik, Das klingt so vornehm, nach Reichtum und Glück, O, wär ich reich, hätt' ich Geld, Mir gehörte die ganze Welt. Jakob Wassermann
Jakob Wassermann (1873 – 1934), deutscher Schriftsteller
aus:Simplicissimus 1897 , 2. Jahrgang, Heft Nr. 24, Seite 192