Auf die Phantasie Laß die Phantasie nur schweifen, Freude will zuhaus nicht reifen; Denk, dein kleines Glück zerfließt: Regen, der aufs Pflaster gießt. Drum laß Phantasie nur streifen, Weiter als Gedanken schweifen, Riegle auf des Geistes Tor – Lichtwärts segelt sie empor. Süße Phantasie laß frei, Sommers Freude flieht vorbei, Und des Lenzes liebe Lust Welkt wie all sein Blütenblust; Herbstes rote Früchte auch – Rot von Tau und Nebelrauch – Sind dir Überdruß. Was nun? Still am Herde sollst du ruhn, Wenn die Glut zu Glanz entfacht Geistert durch die Winternacht. Wenn die Erde stumm und kalt Und der Schnee sich klebrig ballt Um des Bauern plumpen Schuh, Nacht sich dehnt der Mittnacht zu Und aus ihrem Dunkelland Alles Wirkliche verbannt, Ruhe dann und laß von hinnen – Ehrfurcht leite dies Beginnen – Phantasie zu hohem Flug! Genien dienen ihr genug. Winter weiß nur Frost zu weben – Sie wird Schönheit wiedergeben, Alles bringt sie wieder dar: Sommer, der dir glühend war, All des Maimonds Blütenlast, Tauigen Stiel und dornigen Ast; All des Herbstes reifen Segen, Frucht und Duft und sanften Regen, Mischt sie dir zu seligem Trank – Schlürfe ihn und sag ihr Dank. Schlürfe ihn – und zu dir zieht, Ferneher ein Erntelied; Reife Halme hörst du fallen, Hörst den Sang der Nachtigallen, Lerchenlust, die im April Nie den Jubel enden will; Hörst den rauhen Ruf der Krähen, Die nach Halm und Reisig spähen, Und du siehst im ersten Grün Enzian und Primeln blühn, Lilien in weißer Pracht, Rose, die zur Sonne lacht, Und das mailiche Frohlocken Blauer Hyazinthenglocken, Zweige, Blätter, Blütentaschen, Die der Regen blank gewaschen. Siehst die Feldmaus, die erwacht Lugt aus ihrem Winterschacht, Schlange, die vom Schlafen mager, Lauert im durchsonnten Lager; Siehst den Dornbusch Nestchen wiegen, Drin gefleckte Eier liegen, Und im moosigen Bett versteckt Feldhuhn, das die Flügel streckt. Hörst die Bienen, die im Grün Summend hin und wieder ziehn, Eicheln, die zu Boden schlagen, Und des Herbstwinds Sang und Klagen. Süße Phantasie, laß frei! Alles wird zum Einerlei, Selbst der Liebsten rosige Wangen Scheinen nicht wie einst zu prangen. Wo ist wohl der reife Mund, Der dir neu zu jeder Stund? Wo ein Antlitz, noch so hold, Dem man stets begegnen wollt? Wo die Stimme, noch so lieb, Die uns stets ein Wohlklang blieb? Denk dein kleines Glück zerfließt: Regen, der aufs Pflaster gießt. Drum laß Phantasie sich schwingen, Sie wird dir ein Traumbild bringen, Süß, wie einst Proserpina, Eh der Gott der Qual sie sah, Weiß von Leib und weiß von Lenden, So wie Hebe, als in Händen Sie den Becher hob und klirrend, Jupiter den Sinn verwirrend, Daß sein Blick sich Sehnsucht trank, Gürtel ihr und Kleid entsank. Auf das Netz! Gib frei die Zügel! Schon hebt Phantasie die Flügel. Tore auf! Sie will entschweben, Um dir all dies Glück zu geben. – – Laß die Phantasie nur schweifen, Freude will zuhaus nicht reifen. John Keats
John Keats (1795 – 1821), britischer Dichter
aus: „Gedichte“ von John Keats. Übertragung von Gisela Etzel. Insel-Verlag zu Leipzig, 1910. Seite 27 – 29