Pfauenauge Ein kühles Schloß, ein schattiger Palast von Nesseln. - Dicke Marienkäferchen mit rundem Schild Reisen geschäftig trippelnd durch die Jalousien. Zuoberst unterm Dache, am Mansardenfenster Sitzt äsend eine schwarze, blaugeperlte Raupe. Plötzlich ein dunkler Tulpenschein verdeckt die Aussicht - Und schlüpfend in die Nesseln durch das schmale Fenster Ein Pfauenauge zieht in seine Jugendheimat. Flatternd durcheilt es die geliebten Säle, rot Mit blut'gem Flammenlicht erhellend den Palast. Plötzlich entspringt es durch die Tür. Ein Blitz. Verschwunden. Aber die Raupe, ob dem Purpurflammenspiel Jählings erfaßt von unnennbarer Seelensehnsucht, Steigt auf das Dach und klettert an der steilen Mauer Empor zum Sims. Daselbst, hangend in freier Luft, Spinnt sie sich ab von aller Welt und träumt und dichtet. Ob ihrem Träumen färbt und schildert sich ihr Wesen; Ob ihrem Dichten füllt sie sich mit rotem Herzblut; Während die Wintersonne, glitzernd überm Eis, Schmückt ihr den Helm mit Gold und stählt den Schild und Panzer. Bis daß nach langer Zeit an einem Mai und Morgen Die Grille zirpt und schreit die Lerche überm Saatfeld: Da zwängt und drängt sie sich ans Licht nach heft'gen Krämpfen Und weint fünf Tropfen zähen Blutes. Plötzlich - ha! - Bin ich es selbst? Mich dünkt, ich spüre Geist und Flügel! Es hebt und trägt mich! Auf! empor zum hohen Himmel! Gefahr zu suchen und die weite Welt zu messen. Das höchste Los und Glück auf Erden nenn' ich mein: Leibhaft zu wissen meinen besten Seelenschein Und was ich vormals stumm bewundert selbst zu sein. Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 40 – 41
Tagpfauenauge von Maria Sibylla Merian (1647 – 1717)