In der Stadt 1 Wo sich drei Gassen kreuzen, krumm und enge, Drei Züge wallen plötzlich sich entgegen Und schlingen sich, gehemmt auf ihren Wegen, Zu einem Knäul und lärmenden Gedränge: Die Wachtparad' mit gellen Trommelschlägen, Ein Hochzeitzug mit Geigen und Gepränge, Ein Leichenzug klagt seine Grabgesänge – Das alles stockt, kein Glied kann sich mehr regen. Verstummt sind Geiger, Pfaff und Trommelschläger, Der dicke Hauptmann flucht, daß niemand weiche, Gelächter schallet aus dem Hochzeitzug. Doch oben auf den Schultern schwarzer Träger Starrt in der Mitte kalt und still die Leiche Mit blinden Augen in den Wolkenflug. 2 Was ist das ein Schrein und Peitschenknallen? Die Fenster zittern von der Hufe Klang, Zwölf Rosse keuchen an dem straffen Strang, Und Fuhrmannsflüche durch die Gasse schallen. Der auf den freien Bergen ist gefallen, Dem toten Waldeskönig gilt der Drang; Da schleifen sie, wohl dreißig Ellen lang, Die Rieseneiche durch die dumpfen Hallen. Der Zug hält meinem Fenster an, Denn es gebricht zum Wenden ihm an Raum; Verwundert drängt sich alles Volk heran. Sie weiden sich an der gebrochnen Kraft; Da liegt entkrönt der tausendjähr'ge Baum, Aus allen Wunden quillt der edle Saft.
Gottfried Keller (1819 – 1890), Schweizer Dichter, Politiker, Schriftsteller, Dramatiker
aus: „Gedichte“ von Gottfried Keller. Verlag: Haessel, Leipzig, 1923. Sonette, Seite 46 – 47