Die Töne

Ihr tiefen Seelen, die im Stoff gefangen

Die Töne

Ihr tiefen Seelen, die im Stoff gefangen,
Nach Lebensodem, nach Befreiung ringt;
Wer löset eure Bande dem Verlangen,
Das gern melodisch aus der Stummheit dringt?
Wer Töne öffnet eurer Kerker Riegel?
Und wer entfesselt eure Ätherflügel?

Einst, da Gewalt den Widerstand berühret,
Zersprang der Töne alte Kerkernacht;
Im weiten Raume hier und da verirret
Entflohen sie, der Stummheit nun erwacht,
Und sie durchwandelten den blauen Bogen
Und jauchzten in den Sturm der wilden Wogen.

Sie schlüpften flüsternd durch der Bäume Wipfel
Und hauchten aus der Nachtigallen Brust,
Mit mutigen Strömen stürzten sie vom Gipfel
Der Felsen sich in wilder Freiheitslust.
Sie rauschten an der Menschen Ohr vorüber,
Er zog sie in sein innerstes hinüber.

Und da er unterm Herzen sie getragen,
Heisst er sie wandlen auf der Lüfte Pfad
Und allen den verwandten Seelen sagen,
Wie liebend sie sein Geist gepfleget hat.
Harmonisch schweben sie aus ihrer Wiege
Und wandlen fort und tragen Menschenzüge.

Karoline von Günderrode

Karoline Friederike Louise Maximiliane von Günderrode (1780 – 1806), deutsche Dichterin, Schriftstellerin

Lieder

Mit wunderholdem süßen Klang

Lieder

Mit wunderholdem süßen Klang
Sagst du zu mir: "O meine Dichterliebe!"
Es ist dies Wort mir wie Gesang,
Wie frischer Ost verscheucht es meine Trübe.

Ich lechzte lang in meiner Nacht
Nach solcher Liebe, die ein Gott nur spendet,
Und gleich erhab'ner Göttermacht
Hast du den Fluch in Segen mir gewendet.

Ich liebe und ich bin geliebt -
Lenz, Leben, Lust sie kehren jubelnd wieder,
All jener Nebeldunst zerstiebt,
Und goldnen Strahls blickt Gottes Sonne nieder.

Mathilde Kaufmann

Mathilde Kaufmann, geborene Binder (1835 – 1907), deutsche Schriftstellerin, Dichterin. Pseudonym: Amra George-Kaufmann

Flamme

Was sträubst du dich der süßen Glut

Flamme

Was sträubst du dich der süßen Glut,
die züngelnd schon dein Haupt versengt,
die liebeheißen Atems dich
mit Flammenarmen eng umdrängt?!

Die Glut bin ich - und du bist mein!
wirf ab, wirf ab das Alltagskleid:
gib deine ganze Seele hin
in ihrer nackten Herrlichkeit!

Umschlingen will ich glühend dich
und pressen dich ans heiße Herz,
die Kette schmelzen, die dich band,
in meinem Kuß wie tropfend Erz!

Und flüstern will ich dir ins Ohr
ein Wörtlein, zaub'risch wunderfein,
daß du nichts andres denken sollst,
als mich allein, als mich allein . . . 

Clara Müller-Jahnke

Clara Müller-Jahnke, geborene Müller (1860 – 1905, deutsche Dichterin, Journalistin, Frauenrechtlerin