Hymne für die Erde

Ich scheide wie die Luft; ich schüttle meine weißen Locken

Ich scheide wie die Luft; ich schüttle meine weißen Locken gegen die enteilende Sonne hin; Ich ergieße mein Fleisch in Wirbeln und lasse es hintreiben in fadigen Streifen.

Ich vermache mich dem Schmutz, um aus dem Grasse, das ich liebe, emporzutreiben; Wenn du mich wieder brauchst, so suche mich unter deinen Stiefelsohlen.

Kaum wirst du wissen, wo ich bin, oder was ich meine; Trotz allem aber werde ich dir gut bekommen, Und klären und kräftigen dein Blut.

Wenn du mich nicht sogleich verstehst, bleibe dennoch guten Mutes. Findest du mich nicht an einer Stelle, so such mich an einer anderen. Irgendwo halte ich mich auf und warte auf dich.

Walt Whitman

Walt Whitman (1819 – 1892), US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter, Schriftsetzer, Lehrer, Essayist

Der Brombeerzweig

Trag‘ ich tief im Herzen

Der Brombeerzweig

Sieh', da will ein dorn'ger Zweig
Uns den Pfad verwehren -
Sieh' die Beeren überreich,
Die ihn sanft beschweren.

Beeren, schwarz und rot und grün -
Wie sie mählich reifen
Bei der Strahlen heißem Glüh'n,
Die im Wald sie streifen.

So viel Wünsche sonder Zahl
Trag' ich tief im Herzen,
Das dir schlägt in holder Qual
Und geliebten Schmerzen.

Mancher, schon verblutend, mag,
Daß er ward, bereuen -
Doch es reift ein jeder Tag
Seilig einen neuen!

Ferdinand von Saar

Ferdinand von Saar (1833 – 1906), österreichischer Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker.

Herbstlied 1

Hohler Ton, Violenton, Bang im Herbste,

Herbst

Hohler Ton,
Violenton,
Bang im Herbste,
Stöhnte mit ein-
Töniger Pein
Lang im Herzen.

Ganz verstummt,
Wenn Turm summt.
Stunden schlagen,
Bleich und wach
Wein ich nach
Früheren Tagen.

Und ich geh
Im Wehn und Weh
Hingetrieben,
Da, dort,
Wo verdorrt
Blätter stieben.

Paul Verlaine

Paul Verlaine (1844 – 1896) französischer Lyriker, Dichter, Schriftsteller

Herbstlied 2

Der Herbst durchzieht, das Sehnsuchtslied

Herbst

Den Herbst durchzieht
das Sehnsuchtslied.
Der Geiger
Und zwingt mein Herz
In langem Schmerz
Zu zweigen.

Bleich und voll Leid,
Das die letzte Zeit
Erscheine,
Gedenk‘ ich zurück An fernes Glück,
Und ich weine.

Und so muss ich gehn.
Im Herbstenwehn.
Und Wetter, Bald hier, bald dort,
Verweht und verdorrt
Wie Blätter.

Paul Verlaine

Paul Verlaine (1844 – 1896) französischer Lyriker, Dichter, Schriftsteller

aus ‚ Chanson d’automne‘

‚Ausgewählte Gedichte‘ , übertragen von Graf Wolf von Kalckreuth, Verlag Pöschel & Trepte, 1906. Original im Lemerre-Verlag Paris 1866

Die Drossel

Kleine Drossel aus den Kindertagen

Die Drossel

Kleine Drossel aus den Kindertagen,
ist‘ derselbe Wald noch, der dich trägt?
Bist du’s selbst, die mir mit ihrer Klagen
immer noch das alte Herz bewegt?

Ach, wie vieles sahen wir sich wandeln,
unsere ersten Verse, auch wie fern …
unser frühes Leiden, unser Handeln,
alles ist schon wie ein fremder Stern.

Nur durch deine Lieder schlingt sich leise
jene stille Kette, die nicht bricht,
eingeschlossen ruhst du in dem Kreise,
früber Gott den Abendsegen spricht.

Und wir selbst, in ewigen Verändern,
Lauschen fromm dir wie zur Kinderzeit,
ach, verweil‘ an unser Abendrändern,
kleine Zeugin du der Ewigkeit.

Ernst Wiechert

Ernst Wiechert (1887 – 1950) deutscher Schriftsteller, Lehrer

Gedicht aus: ‚Die letzten Lieder‘, Verlag Arche, Zürich. 1951

Was ist Gras?

Ein Kind sagte: Was ist Gras?

Was ist Gras?

Ein Kind sagte: Was ist Gras? Und es brachte mir mit vollen Händen, wie konnte ich dem Kinde Antwort geben? Ich weiß es ebenso wenig. Ich meine, es müßte die Fahne meines Herzen sein, ganz aus einem hoffnungsreinem Stoff gewoben oder ich meine, es ist der liebende Gottes Taschentuch.

Walt Whitman

Walt Whitman (1819 – 1892) US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter, Schriftsetzer, Lehrer, Essayist

Vers aus: Walt Whitman, Grashalme, Eugen Dietrichs Verlag, Leipzig, 1904

‚Leaves of Grass‘, Walt Whitman, Thayer and Eldrige, Boston, Years 85 of the States (1860 – 61). Erstdruck erschien anonym im Selbstverlag, Brooklyn, New York, 1855

Die schönen Wunder

Die schönen Wunder aus den sieben Reichen

Die schönen Wunder

Die schönen Wunder aus den sieben Reichen,
die bald Zitronenfalter,
groß an Stielen, bald Zwergflamiges,
die in Büschen fielen
bald Muscheln sind aus zauberstillen Teichen.

O meine Rosen. Herzen.
Mögt ihr bleiben, erschaffen,
erschöpft vom weißen Sonnenspielen
verzehrt vom Überschang, dass Allzuvielen;
tragt singend euch zu Grabe, süßer Leichen!

Ich will euch doch vom lieben Zweig, nicht trennen
euch nicht im engen, lauen Glase weinen,
die kurze Spanne Blühn euch kunstreich dehnen.

O gut: an unermeßnem Glanz verbrennen,
statt, von der heißen Erde fortgerissen,
ein langes schales Leben hinzusehnen.

Gertrud Kolmar

Gertrud Kolmar (1894 – 1943, ermordet in Ausschwitz) deutsche Lyrikerin, Schriftstellerin.

aus: ‚Die Gedichte‘, Ihr Vater züchtete in seinem Garten Rosen. Über diese Rosen schrieb sie viele Gedichte

Dicke, gelbe Butterblumen

Der Rasen blinkt, die Götter glänzen

Dicke, gelbe Butterblumen!
Der Rasen blinkt, die Götter glänzen.

Eine nackte Venus untersucht ihr Knie, ein steinerner Hercules schlägt die
Leyer.

Die Wasser stürzen, die Wolken eilen,
die Welt voll Sonne

Frühling!

In meinem Herzen
träumt das Bild eines kleinen Mädchens
mit geöffneten Lippen und lachenden Augen.

Arnold Holz

Arno Holz (1863 – 1929) Deutscher Dichter, Journalist, Dramatiker, Schriftsteller

aus ‚Phantasus‘

Phantasus ist ein Lyrikzyklus.

‚Phantasus‘ gilt als sein Hauptwerk. Erstveröffentlichung 1898. Danach schrieb er noch bis zu seinem Tode 1929 daran. Einige Male veröffentlicht, die Seiten wurden immer mehr.

Der Weg

Mit dem Monde will ich wandeln

Der Weg

Mit dem Monde will ich wandeln:
Schlangenwege über Berge
führen Träume, bringen Schritte
durch den Wald dem Mond zu.

Durch Zypresen staunt er plötzlich,
dass ich ihm entgegen gehe.
Aus dem Ölbaum blaut er lächelnd,
wem mich’s friedlich talwärts zieht.

Schlangenweg durch die Wälder
bringen mich zum Silbersee
nur ein Nachen auf dem Wasser,
heilig oben unser Mond.

Schlangenwege durch die Wälder
frühren mich zu einem Berg.
Oben steht der Mond und wartet
und ich steige leicht empor.

Theodor Däubler

Theodor Däubler (1876 – 1934) österreichisch-deutscher Schriftsteller, Epiker, Übersetzer, Lyriker, Erzähler