Die Wichtigkeit des männlichen Geschlechtes

Einen Knaben und ein Mädchen

Wenn zu gleicher Zeit zwei Mütter
Und am gleichen Ort geboren
Einen Knaben und ein Mädchen,
Welche sie verwechselt haben:
Wie wird deren Streit entschieden?
Also: daß man in zwei Flaschen
Füllt die Milch der beiden Mütter,
Und sie wägt auf einer Wage;
Deren Milch nun schwerer wieget,
Die ist's, die gebar den Knaben.
So viel schwerer in der Meinung,
Als ein Mädchen, wiegt ein Knabe.

Friedrich Rückert

Freimund Raimar (1788 – 1866),, deutscher Dichter, Lyriker und Übersetzer arabischer, hebräischer, indischer, persischer und chinesischer Dichtung

Wir können nur geben, was wir empfangen haben

es war einmal ein Mann

Geschichte des arabischen Sprichworts:
Wir können nur geben, was wir empfangen haben

Es war ein Mann, der wollte
Von seinem Weibe Knaben;
Zu seinem Ärger sollte
Er lauter Mädchen haben.

als sie das erste brachte,
Ertrug er's noch geduldig;
Als sie's nicht besser machte,
Zeigt' er sich schon ungeduldig.

Und als sie's tat zum dritten,
Wollt' er nicht länger leiden,
Was er so lang gelitten,
Und drohte, sich zu scheiden.

Da sprach sie: Für mein Leben
Gäb' ich dir gerne Knaben;
Wir können doch nur geben,
Was wir empfangen haben.

Friedrich Rückert

Freimund Raimar (1788 – 1866),, deutscher Dichter, Lyriker und Übersetzer arabischer, hebräischer, indischer, persischer und chinesischer Dichtung

Unter Myrtenzweigen

Du blickst dein Verlangen

Unter Myrtenzweigen
Beim Rieseln der Quelle
Und der Nachtigall Lied,
Auf sanftem Rasen
Durchwirkt mit Blumen,
Im duftenden Hain,
Gebogen die Äste
Von goldener Frucht
Und silberner Blüte,
Wo ewig blau der Himmel,
Ewig lau die Lüfte
Dich umwehen –

Das Mädchen im leichten Gewand
Tanzet den bunten Reihen,
Bricht die labende Frucht,
Schöpfet vom Quell.
Am Felsen ein Hüttchen
Mit weniger Habe,
Dort ruht es die Glieder
Auf reinlichem Lager.

Du blickst dein Verlangen
Ihr tief in das Herz,
Sie hat dich verstanden,
Und teilet die Glut.
Nichts wehrt dir die Küsse
Auf Lippen und Wangen;
Lilien und Rosen,
Blüten und Knospen,
 Alles ist dein.

Leicht wie der Westwind,
Scherzend wie er,
Berührst du die Blumen,
Und fliehest vorüber,
Schonend der zarten.
Wer fürchtet da Neid?
Wen lockt der Ruhm?
Zürnet die Mutter?
Das Lächeln kann sie
Doch nicht verbergen;
Denn eigne süße Schuld
Ruft die Tochter
Zurück ihr ins Herz.

Dorothea Schlegel

Dorothea Friederike Schlegel (1764 – 1839), deutsche Schriftstellerin, Literaturkritikerin