Der zahme Vogel

Ihre Liebe ist heiß, voll Verlangen

Der zahme Vogel

Der zahme Vogel, war in einem Käfig, der freie Vogel war im Walde.
Als ihre Zeit gekommen war, trafen sie sich;
so wollte es das Schicksel.
Der freie Vogel ruft: "O Liebster, laß uns zum Walde fliegen:"
Der Vogel im Käfig zwitschert: "Komm her, laß uns beisammen im Käfig leben."
Sagt der freie Vogel: "Wo ist denn Platz hinter Stäben, seine Flügel zu spreiten?"

Der freie Vogel ruft: "Mein Liebling, singe die Lieder der Wälder."
Der Vogel im Käfig sagt: "Setz Die zu mir, ich will Dich unterweisen in der Sprache der Gelehrten."
Der Waldvogel ruft: "Nein, ach nein" Lieder können niemals gelehrt werden."
Der Vogel im Käfig sagt: "Weh mir, ich weiß sie nicht, die Lieder der Wälder."

Ihre Liebe ist heiß, voll Verlangen; doch können sie nie Schwinge fliegen. Durch die Stäbe des Käfigs schauen sie und sehen sich vergebens, einander zu kennen.

Sie flattern sehnsüchtig mit ihren Flügeln und singen: "Komm näher, mein Lieb!"
Der freie Vogel ruft: "Es geht nicht, ich fürchte die verschlossenen Türen des Käfigs. Der Vogel im Käfig zwitschert: "Weh, meine Flügel sind kraftlos und tot."

Rabindranath Tagore

Rabindranath Tagare ( 1861 – 1841), bengalischer Dichter, Philosoph, Musiker, Komponist, Dramatiker, Universalgelehrter, Anhänger der hinduistischen Reformbewegung Brahmo Sanaj

Es ist

Es ist

Es ist nicht mehr Tag, der Schatten liegt auf der Erde. Es ist Zeit, daß zum Fluß ich gehe, den Kurg zu füllen.
Die Abenluft ist schwanger von dunkler Musik des Wasser - es ruft mich ins Zwielicht hinaus. In der einsamen Gasse geht Niemand vorüber, der Wind ist auf, die Wellen kräuselnd sich auf dem Flusse.
Ich weiß nicht, ob ich je heimwärts wiederkehre, ich weiß nicht, wen mir der Zufall entgegenführt. Dort bei der Furt in dem kleinen Boot spielt der Unbekannte auf seiner Flöte.

 Rabandranath Tagore

Rabindranath Tagare ( 1861 – 1841), bengalischer Dichter, Philosoph, Musiker, Komponist, Dramatiker, Universalgelehrter, Anhänger der hinduistischen Reformbewegung Brahmo Sanaj

Nicht Hammerhiebe

sondern der Tanz des Wassers

Nicht Hammerhiebe

Nicht Hammerhiebe, sondern der Tanz des Wassers rundet den Kiesel zur Schönheit.

Rabendranath Tagore

Rabendranath Tagore ( 1861 – 1841), bengalischer Dichter, Philosoph, Musiker, Komponist, Dramatiker, Universalgelehrter, Anhänger der hinduistischen Reformbewegung Brahmo Sanaj

Licht

Licht

Licht! O, wo ist das Licht? Entzünd es am brennenden Feuer der Sehnsucht! Da ist die Lampe, doch weh, kein Flackern der Flamme - ist das dein Schicksal mein Herz!
Dann wäre dir besser bei weitem der Tod.
Elend klopft an die Tür, seine Botschaft kündet: dein Herr ist wachsam, er ruft durch das Dunkel der Nacht dich zum Stelldichein.
Der Himmel verhängen Wolken; der Regen ist endlos. Ich weiß nicht, was in mir sich regt, weiß nicht seinen Sinn.
Ein Blitzstrahl zieht tieferes Dunkel mir übers Aug, und mein Herz tastet den Pfad, auf den die Stimmen der Nacht mich rufen.
Licht! O, wo ist das Licht? Entzünd es am brennenden Feuer der Sehnsucht. Es donnert, der Wind stürzt kreischend durchs Leere. Die Nacht ist schwarz, schwarz wie ein Stein. Laß nicht die Stunden vergehen im Dunkeln. Zünde die Lampe der Liebe mit deinem Leben.

Rabindranath Tagore

Rabindranath Tagare ( 1861 – 1841), bengalischer Dichter, Philosoph, Musiker, Komponist, Dramatiker, Universalgelehrter, Anhänger der hinduistischen Reformbewegung Brahmo Sanaj

Schaue immer in Richtung der Sonne

und alle Schatten werden hinter dich fallen

Schaue immer in Richtung

Schaue immer in Richtung der Sonne – und alle Schatten werden hinter dich fallen.

Walt Whitman

Walt Whitman (1819 – 1892) US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter, Schriftsetzer, Lehrer, Essayist

aus: Versgesang aus: Walt Whitmans Werke, ‚Gesang von mir Selbst‘ . S. Fischer Verlag Berlin, 1919, 2. Band. Übertragung: Hans Reisiger (1884 – 1968)

‚Gesang mit mir selbst‘, übersetzt aus dem Amerikanischen ins Deutsche von Max Hayer. Verlag Leipzig und Wien. Wiener Graphische Werkstätte, 1902.

Lass ihn wandern im Takt der Musik

Wenn ein Mensch nicht im selben Takt geht wie alle anderen Menschen, beruht das vielleicht darauf, dass er einen anderen Trommler hört. Lass ihn wandern im Takt der Musik, die er hört.

Henry David Thoreau

Henry David Thoreau (1817 – 1862), US-amerikanischer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge.

Bildnis: Henry David Thoreau (1817 – 1862)

Die Drossel

Kleine Drossel aus den Kindertagen

Die Drossel

Kleine Drossel aus den Kindertagen,
ist‘ derselbe Wald noch, der dich trägt?
Bist du’s selbst, die mir mit ihrer Klagen
immer noch das alte Herz bewegt?

Ach, wie vieles sahen wir sich wandeln,
unsere ersten Verse, auch wie fern …
unser frühes Leiden, unser Handeln,
alles ist schon wie ein fremder Stern.

Nur durch deine Lieder schlingt sich leise
jene stille Kette, die nicht bricht,
eingeschlossen ruhst du in dem Kreise,
früber Gott den Abendsegen spricht.

Und wir selbst, in ewigen Verändern,
Lauschen fromm dir wie zur Kinderzeit,
ach, verweil‘ an unser Abendrändern,
kleine Zeugin du der Ewigkeit.

Ernst Wiechert

Ernst Wiechert (1887 – 1950) deutscher Schriftsteller, Lehrer

Gedicht aus: ‚Die letzten Lieder‘, Verlag Arche, Zürich. 1951

Lüge

Die Sonne spielte im Fluss und glitt mit ihren Strahlen

Die Sonne spielte im Fluss

Die Blattlaus frisst Pflanzen, der Rost Metalle und die Lüge die Seele.

Anton Tschechow

Anton Tschechow (1860 – 1904) russischer Schriftsteller, Dichter, Erzähler

aus ‚Notizbücher‘

Jeder für sich selbst ist jeder unsterblich

aber er kann nie wissen

Jeder für sich selbst ist jeder unsterblich

Für sich selbst ist jeder unsterblich; er mag wissen, dass er sterben muss, aber er kann nie wissen, dass er tot ist.

Samuel Butler

Samuel Buttler (1835 – 1902) englischer Schriftsteller, Maler, Komponist, Gelehrter, Philologe

‚The notbooks of Samuel Butler. London, A.C. Fifield, 1912 (Erstveröffentlichung)