An Tieck

Verstoßen in ein fremdes Land

An Tieck

Ein Kind voll Wehmut und voll Treue,
Verstoßen in ein fremdes Land,
Ließ gern das Glänzende und Neue,
Und blieb dem Alten zugewandt.

Nach langem Suchen, langem Warten,
Nach manchem mühevollen Gang,
Fand es in einem öden Garten
Auf einer längst verfallnen Bank

Ein altes Buch mit Gold verschlossen,
Und nie gehörte Worte drin;
Und, wie des Frühlings zarte Sprossen,
So wuchs in ihm ein innrer Sinn.

Und wie es sitzt, und liest, und schauet
In den Kristall der neuen Welt,
An Gras und Sternen sich erbauet,
Und dankbar auf die Kniee fällt:

So hebt sich sacht aus Gras und Kräutern
Bedächtiglich ein alter Mann,
Im schlichten Rock, und kommt mit heiterm
Gesicht ans fromme Kind heran.

Bekannt doch heimlich sind die Züge,
So kindlich und so wunderbar;
Es spielt die Frühlingsluft der Wiege
Gar seltsam mit dem Silberhaar.

Das Kind faßt bebend seine Hände,
Es ist des Buches hoher Geist,
Der ihm der sauern Wallfahrt Ende
Und seines Vaters Wohnung weist.

Du kniest auf meinem öden Grabe,
So öffnet sich der heilge Mund,
Du bist der Erbe meiner Habe,
Dir werde Gottes Tiefe kund.

Auf jenem Berg als armer Knabe
Hab ich ein himmlisch Buch gesehn,
Und konnte nun durch diese Gabe
In alle Kreaturen sehn.

Es sind an mir durch Gottes Gnade
Der höchsten Wunder viel geschehn;
Des neuen Bunds geheime Lade
Sahn meine Augen offen stehn.

Ich habe treulich aufgeschrieben,
Was innre Lust mir offenbart,
Und bin verkannt und arm geblieben,
Bis ich zu Gott gerufen ward.

Die Zeit ist da, und nicht verborgen
Soll das Mysterium mehr sein.
In diesem Buche bricht der Morgen
Gewaltig in die Zeit hinein.

Verkündiger der Morgenröte,
Des Friedens Bote sollst du sein.
Sanft wie die Luft in Harf und Flöte
Hauch ich dir meinen Atem ein.

Gott sei mit dir, geh hin und wasche
Die Augen dir mit Morgentau.
Sei treu dem Buch und meiner Asche,
Und bade dich im ewgen Blau.

Du wirst das letzte Reich verkünden,
Was tausend Jahre soll bestehn;
Wirst überschwenglich Wesen finden,
Und Jakob Böhmen wiedersehn.

Novalis (an Tieck, um 1800)

Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (1772 – 1801), deutscher Schriftsteller, Philosooph

Frühlingsabend

Die Erde ruht

Frühlingsabend

Die Erde ruht; am Himmel fliegen
Goldlichte Wolken sonder Zahl;
Des Thaues Demanttropfen liegen
Ringsum im weiten stillen Thal;
Das Bächlein plätschert um den Hügel;
Des Donners Schall verweht der West;
Der Wind schlägt machtlos mit dem Flügel,
Umstrickt vom starken Baumgeäst.

Der hohe Wald steht stumm und lauschend,
Es schweigt das grüne Waldesreich;
Im Dunkel bebt, kaum hörbar rauschend,
Ein schlummerloses Blatt am Zweig.
Im Abendroth erglüht allmälig
Der Liebe Stern so schön, so klar -
Und mir wird leicht und still und selig,
Wie einst, da noch ein Kind ich war! ... 

Iwan Sergejewitsch Turgenew

Iwan Sergejewitsch Turgenew – Иван Сергеевич Тургенев (1818 – 1883). russischer Dichter, Schriftsteller, Dramatiker, Erzähler

Leider sind die russischen Webseiten zur Zeit kaum zu erreichen und sehr unsicher. Sobald sich die Lage nicht ändert, kann ich nicht das Original auf russisch auf meine Webseite zeigen.

Gemälde: Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818 – 1883)

Das Lied vom armen Kind

Der taube Mann, das blind

Das Lied vom armen Kind

oder
Wer zuletzt lacht, lacht am besten

Es war einmal ein armes Kind,
Das war auf beiden Augen blind,
Auf beiden Augen blind;
Da kam ein alter Mann daher,
Der hört auf keinem Ohre mehr,
Auf keinem Ohre mehr.
Sie zogen miteinander dann,
Das blinde Kind, der taube Mann,
Der arme, alte, taube Mann.

So zogen sie vor eine Tür,
Da kroch ein lahmes Weib herfür,
Ein lahmes Weib herfür.
Bei einem Automobilunglück
Ließ sie ihr linkes Bein zurück,
Das ganze Bein zurück.
Nun zogen weiter alle drei,
Das Kind, der Mann, das Weib dabei,
Das arme, lahme Weib dabei.

Ein Mägdlein zählte vierzig Jahr,
Derweil sie stets noch Jungfrau war,
Noch keusche Jungfrau war.
Um sie dafür zu strafen hart,
Schuf Gott ihr einen Knebelbart,
Ihr einen Knebelbart.
Sie flehte: Laßt mich mit euch gehn,
Ihr Lieben, laßt mich mit euch gehn,
So wird noch Heil an mir geschehn!

Am Wege lag ein räudiger Hund,
Der hatte keinen Zahn im Mund,
Nicht einen Zahn im Mund;
Fand er mal einen Knochen auch,
Er bracht' ihn nicht in seinen Bauch,
Ihn nicht in seinen Bauch.
Nun trabte hinter den anderen vier,
Wiewohl es am Verenden schier,
Das alte, räudige Hundetier.

Ein Dichter lebt' in tiefster Not,
Er starb den ewigen Hungertod,
Den ewigen Hungertod.
Mit Herzblut schrieb er sein Gedicht,
Man druckt es nicht, man liest es nicht,
Und niemand kennt es nicht.
Sein Leib war krank, sein Geist war wund,
Drum schloß er mit dem räudigen Hund
Der Freundschaft heiligen Seelenbund.

Und dann schrieb er zu Aller Glück
Ein wundervolles Theaterstück,
Ein wundervolles Stück,
In welchem die Personen sind
Der taube Mann, das blinde Kind,
Das arme, blinde Kind,
Das lahme Weib, die Jungfrau zart
Mit ihrem langen Knebelbart,
Die Jungfrau mit dem Knebelbart.

Und eh' die nächste Stund' entflohn,
Konnt' Jeder seine Rolle schon,
Die ganze Rolle schon.
Verständnisvoll führt die Regie
Das alte, räudige Hundevieh,
Das räudige Hundevieh.
Drauf ward das Schauspiel zensuriert
Und einstudiert und aufgeführt
Und ward ganz prachtvoll kritisiert.

Die Künstler fanden viel Applaus,
Man spannt dem Hund die Pferde aus
Und zieht ihn selbst nach Haus.
Da gab's nun auch Tantiémen viel
Und hohe Gagen für das Spiel,
Das ungemein gefiel. -
Nachdem sie ganz Europa sah,
Da reisten sie nach Amerika,
Nach Nord- und Südamerika.

Nun hört zum Schluß noch die Moral:
Gebrechen sind oft sehr fatal,
Sind manchmal eine Qual;
Frau Poesie schafft ohne Graus
Beneidenswertes Glück daraus,
Sie schafft das Glück daraus.
Dann schwillt der Mut, dann schwillt der Bauch,
Und sei's bei einer Jungfrau auch. -

Frank Wedekind

Benjamin Franklin Wedekind (1864 – 1918), deutscher Dichter, Dramatiker, Schauspieler

Debutant

Die Kindheit ahnungsvolle, lose Spiele

 Debutant

Kennst du die hohe, dunkle Gartenpforte,
Die ernst verschwiegen an der Straße steht?
Wohl niemand ahnte, welche süßen Worte
In ihrem Schutz der Abendwind verweht.

Dort trat ich ein; von freudigem Erwarten
Schwoll mir das Herz wie dem beschenkten Kind;
Ein leises Flüstern wehte durch den Garten
Von guten Geistern, die dort heimisch sind.

Auf schatt'ger Bank ließ ich mich zaudernd nieder
Und trank der Rose wollustschweren Duft;
Ob meinem Haupte knistert es im Flieder;
Zwei Vöglein zwitschern durch die Abendluft.

Wie aber ward mir, als du vor mich tratst,
Ein Götterbild aus fernen Griechenzeiten,
Als du bedeutungsvoll und lächelnd batst,
Dich tiefer in den Garten zu begleiten.

Dort wurde mir aus Abend und aus Morgen
Der erste Lebenstag, den ich gelebt -
O daß so lange mir das Glück verborgen,
Nach dem das Herz dem Knaben schon gebebt!

O, Ella, Ella, tausend Seligkeiten
In einen einz'gen Atemzug gedrängt;
Die Triebe aus der Menschheit frühsten Zeiten,
Von wonnekund'ger Götterhand gelenkt;

Der Kindheit ahnungsvolle, lose Spiele
Verwandelt in unendlichen Genuß;
O, Ella, alle himmlischen Gefühle
In einem einz'gen Liebeskuß -

Welch hohes Wort, das Menschengeist ersann,
Welch reicher Dank mag diese Stunde lohnen!
Laß ewig mich in deinem Garten wohnen,
Ist alles, was die Lippe stammeln kann.

In seiner Büsche stillem Heiligtum
Nahm ich, als Balsam jeder Erdenqual,
Von deinem Mund das heilige Abendmahl
Zum großen Liebesevangelium. 

Frank Wedekind

Benjamin Franklin Wedekind (1864 – 1918), deutscher Dichter, Dramatiker, Schauspieler

Der Knabe

Gehört vom Lindwurm habt ihr oft

Der Knabe

Gehört vom Lindwurm habt ihr oft,
Ihr meine Spielgesellen,
Nun wird es wahr, was ich gehofft,
Den Drachen werd' ich fällen.
Er liegt gekrümmt am dunklen Ort
Im kleinen Schrank am Spiegel dort,
Da hat er seine Höhle.

Ihr seid die beiden Doggen traut,
Die ich zum Kampfe brauche,
Ich treib' euch an, ihr heulet laut
Und packt ihn unterm Bauche.
Ich geh' mit Schwert und Schild voran,
Mit Helm und Panzer angethan,
Und schrei' ihn aus dem Schlafe.

Hervor! hervor! du Höllenbrut!
Da, seht den grimmen Drachen!
Hu! wie er Feuer speit und Blut
Aus weit gesperrtem Rachen!
Wir kamen unbedachtsam nicht
Zu diesem Strauß, thut eure Pflicht,
Ihr meine guten Doggen.

Und schnappt er gierig erst nach mir,
Ich werd' ihn listig fassen,
Die aufgehäuften Bücher hier
Sind schwere Felsenmassen,
In seinen Rachen werf' ich sie,
Du Untier, erst verschlucke die,
Bevor du mich kannst beißen.

Die Schlacht beginnt, wohl aufgepaßt!
Wir wollen Gutes hoffen;
Er denkt: er hält mich schon gefaßt,
Sein weites Maul ist offen, –
Der dicke Scheller fliegt hinein,
Die andern folgen, groß und klein,
Der Bröder und der Buttmann.

O Buttmann! o was thust du mir,
Du dummer, zum Verderben?!
Du triffst den Spiegel, nicht das Tier,
Da liegen, ach, die Scherben!
Der dumme Spiegel nur ist schuld,
Und tragen soll ich in Geduld
Deshalb noch viele Schläge.

Das Glück hat feindlich sich erprobt,
Getrost, ihr Spielgesellen;
Ich werde, wenn der Meister tobt,
Mich selbst für alle stellen.
Er schlage mich nach Herzenslust,
Daß er es kann, ist mir bewußt,
Doch wird es so nicht dauern.

Ich bin auf immer nicht ein Kind,
Es wird das Blatt sich wenden.
Die durch die Rute mächtig sind,
Die Ruten werden enden.
Ich hab' als Kind den Schwur gethan,
Und bin ich erst erwachs'ner Mann,
Dann weh' den Rutenführern!

Adelbert von Chamisso (1830)

Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt (1781 – 1838), deutscher Dichter und Naturforscher

Vogelschau

Ein riesenhafter Erdkloss kreist

 Vogelschau

Begriffst du schon ein Wunder wie dies eine,
dass die Erde um die Sonne fliegt?
0 Nacht, vor deinem Sternenscheine
liegt all mein Menschliches besiegt ...

Ein riesenhafter Erdkloss kreist
unaufhörlich um ein grosses Feuer:
Da gebiert die Scholle Geist -:
der Mensch wird, Zwerg und Ungeheuer, -

Und ruft, Ausschlag der Bodenrinde,
Erd und Himmel tönend an -
und spielt sein Spiel in Weib und Mann ..
gleich einem ewigen Kinde ...

Ja, Kinder-Spiel ist, was da ist,
das sagt dir jede stille Nacht,
und nur dein tiefes Kind-Sein macht,
dass du noch weiter fröhlich bist.

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern (1871 – 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer

A little boy’s dream

Sea and sky, sea and sky

To and fro, to and fro
In my little boat I go
Sailing far across the sea
All alone, just little me.
And the sea is big and strong
And the journey very long.
To and fro, to and fro
In my little boat I go.

Sea and sky, sea and sky,
Quietly on the deck I lie,
Having just a little rest.
I have really done my best
In an awful pirate fight,
But we captured them all right.
Sea and sky, sea and sky,
Quietly on the deck I lie—

Far away, far away
From my home and from my play,
On a journey without end
Only with the sea for friend
And the fishes in the sea.
But they swim away from me
Far away, far away
From my home and from my play.

Then he cried "O Mother dear."
And he woke and sat upright,
They were in the rocking chair,
Mother's arms around him—tight.

Kathleen Mansfield

Kathleen Mansfield Beauchamp (1888 – 1923), neuseeländische Schriftstellerin, Kritikerin, Erzählerin, Autorin von Kurzgeschichten

The sea child

Peace, go back to the world

Into the world you sent her, mother,
Fashioned her body of coral and foam,
Combed a wave in her hair's warm smother,
And drove her away from home

In the dark of the night she crept to the town
And under a doorway she laid her down,
The little blue child in the foam-fringed gown.

And never a sister and never a brother
To hear her call, to answer her cry.
Her face shone out from her hair's warm smother
Like a moonkin up in the sky.

She sold her corals; she sold her foam;
Her rainbow heart like a singing shell
Broke in her body: she crept back home.

Peace, go back to the world, my daughter,
Daughter, go back to the darkling land;
There is nothing here but sad sea water,
And a handful of sifting sand.

Katherine Mansfield

Kathleen Mansfield Beauchamp (1888 – 1923), neuseeländische Schriftstellerin, Kritikerin, Erzählerin, Autorin von Kurzgeschichten

Das schlafende Kind

Wie reizend schlummert da der Engel

Das schlafende Kind.

Wie reizend schlummert da der Engel!
Ein Aermchen dort, das andre hier,
Scheints nicht, als wär' es ohne Mängel
Und ohne irdische Begier?

Kein Sorgenzug in seinen Mienen!
Wem dünkt es nicht, es müssen ihm
Die Unschuld und der Friede dienen?
Wo lauschet hier ein Ungestüm?

Die Seele schwebt im Stirnenlichte,
Schon, wie des Himmels Heiterkeit,
Und um das rosige Gesichte
Sind goldne Locken hergestreut.

Die holden Augen, die im Wachen
Mit ihrem Schimmer mich erfreun,
Man sieht sie noch im Schlafe lachen;
Wie könnten die doch schädlich seyn?

Wie reizend sind die zarten Glieder?
Ihr kleinstes Regen hat den Ton
Der geistesvollen Herzenslieder;
Ein Fingerchen bezaubert schon.

Jetzt wird's erwachen, wird nicht wissen,
Warum so lieblich es erwacht,
Warum ich's hundertmal muß küssen,
Warum es schön ist ohne Pracht?

Es wird an meinen Busen glühen,
Und eher noch, als seinen Thee,
Den Kuß der Mutter in sich ziehen,
Süß, wie den Bienen junger Klee.

Doch Stürme ruhen in dem Herzen,
Das jetzt noch keine Wünsche kennt,
Begierden schlummern noch und Schmerzen,
Worin oft eine Hölle brennt! —

O bliebe doch der Mutter Liebe
Dir stets, was heute sie dir ist!
Nicht Eine Wolke scheint dir trübe,
Wenn du in meinen Armen bist.

O möchte nie dein Herz dir lachen,
Beim Anschaun aller Erdenpracht!
Dir keine Leidenschaft erwachen,
Die dich nicht ewig glücklich macht

Caroline Louise von Klencke 

Caroline Louise von Klencke (1754 – 1802), deutsche Dichterin, Schriftstellerin

gerade und aufrecht dastehen

gar nicht gebogen, nur gestützt werde

Krümmt – das ist gerade das bezeichnende Wort. Gekrümmt nach dem alten Ideal der Selbstauslöschung, der Demut und des Gehorsams! Aber das neue Ideal ist, dass der Mensch gerade und aufrecht dastehe, folglich gar nicht gebogen, nur gestützt werde, damit er nicht aus Schwäche verkrümme.

Ellen Key

Ellen Karolina Sophie Key (1849 – 1926), schwedische Reformpädagogin, Schriftstellerin