Kein Bedauern, Rufen und kein Klagen

Wanderlust, dein Geist flammt immer rarer

Kein Bedauern, Rufen und kein Klagen,
Die weißen Blütenträume sind vorbei.
Welkend muß man goldne Blätter tragen.
Jung? Ich werde es nicht länger sein.

So wie früher wirst du nicht mehr pochen,
Herz, erfaßt vom kalten, rauen Reif,
Und das Land, aus Birkenbast geflochten,
Lockt nicht mehr, es barfuß zu durchstreifen.

Wanderlust, dein Geist flammt immer rarer
Von den weiten Lippen, bald ist Schluß.
Meine Frische konnt ich nicht bewahren,
Der Augen Wildheit, der Gefühle Überfluß.

Geizig bin ich mit dem Wünschen heute,
Du, mein Leben? träumte ich dich nur?
Frühjahrshatz, und ich, der junge Reiter
Auf rosenrotem Roß, verlor die Spur.

Wir alle sind bestimmt, hier zu verwesen,
Still rinnt Sirup übers Ahornblatt…
Darum seist auf ewig du gepriesen,
Daß du kamst zu blühen und dann starbst.

Sergei Alexandrowitsch Jessenin

Sergei Alexandrowitsch Jessenin (1859 – 1925), russischer Dichter

Übersetzt aus dem russischen ins Deutsche von Paul Celan

Leider sind die russischen Webseiten zur Zeit kaum zu erreichen und sehr unsicher. Sobald sich die Lage nicht ändert, kann ich nicht das Original auf russisch auf meine Webseite zeigen.

Das Blatt der Frühlingsweide

Nicht deshalb lieb ich jene junge Frau

Das Blatt der Frühlingsweide

Nicht deshalb lieb ich jene junge Frau,
Die träumerisch an ihrem Fenster lehnt,
Weil sie den ragenden Palast besitzt
Am Gelben Flusse, - nein, ich liebe sie,
Weil sie dies kleine Blatt der Frühlingsweide
Ins Wasser gleiten ließ . . .

Nicht deshalb liebe ich den Ostwind, weil
Er mir den holden Duft der Birnbaumblüten
Herüberträgt von blumig weißen Höhen, -
Nein, weil er mir das Blatt der Frühlingsweide
An meinen Kahn trieb, - darum lieb ich ihn!

Nicht deshalb lieb ich dieses kleine Blatt
Der Frühlingsweide, weil es mir die Wonnen
Des Lenzes bringt, - nein, weil die junge Frau
Mit einer feinen Nadel meinen Namen
Hineingeritzt hat, - darum lieb ich es!

Chang Chiu-Ling

Chang Chiu-Ling (673 – 740), chinesischer Dichter, Politiker. Auch Zhang Jiuling; Chang Tiou-Lin; Dschang Giu Ling; Tchan-Tiou-Lind

Das Gedicht ‚Das Blatt der Frühlingsweide‘ von Chang Chiu-Ling wurde vertont.

Eine kleine Ballade

Sie wohnte vier Treppen

Eine kleine Ballade

Sie wohnte vier Treppen,
Er unten im Keller,
Und beide hatten sie keinen Heller.

Wohl litten sie nicht Hunger und Not,
Doch was sie verdienten mit ehrlichem Sinn,
Das reichte so gerade zum Leben hin.

Jung waren sie beide und lebensfroh,
Machten sich weiter keine Sorgen.
Kam heute das Glück nicht, kam’s wohl morgen.

Kehrten arbeitsmüd’ sie am Abend heim,
So schauten beide zum Fenster hinaus
Und sahen nach dem Glücke aus.

Aus dem Dache sah sie,
Aus dem Keller sah er,
Und mancher Seufzer flog hin und her.

An einem heissen Maientag
Sprach er sie schüchtern drunten an,
Als sie die Treppen zu steigen begann.

»Da oben ist’s wohl jetzt schön heiss?«
»Ja,« lacht sie, »ja, der Sonnenschein
Heizt etwas stark mein Zimmerlein.«

»Und zu mir kommt gar keine Sonne herein.«
»Nun,« meint sie mit einem fröhlichen Nicken,
»Ich werd’ etwas Sonne hinunterschicken.«

»Dürfte ich sie nicht holen kommen?«
»Nein, i bewahre!« Und im Lauf
Rennt sie die vier Treppen hinauf. – – –

Doch seltsame Dinge geschehen im Mai,
Am selben Abend, der Mond schien herein,
Holte er noch seinen Sonnenschein.


Alice Berend

Alice Berend (1875 – 1938), deutsche Schriftstellerin

Mein Falke

O Sehnsucht, wilder Falke mein

Mein Falke

O Sehnsucht, wilder Falke mein,
Willst du auch müde werden?
Dess' Heimat hoch im Blauen war,
Behagt's dir nun auf Erden?

Wie oft hast du den jungen Sinn
Aus diesen grauen Tagen
Hoch über Sorge, Not und Leid
Getragen.

Bis mir das dunkle Tal entschwand
Im märchenweiter Ferne
Und um mein glühend Haupt sich bog
Das Diadem der Sterne.

Nun beugst auch du die stolze Stirn
Und läßt die Flügel hängen,
Nun hat auch dich die Sorgenfrau
Gefangen.

Brich deine Fesseln, Wanderfalk,
Und hebe dein Gefieder -
Siehst du die Sterne droben glühn,
Hörst du die süßen Lieder?

Es ist die Heimat, die uns ruft,
Sie lockt mit Lust und Wonne,
Steig auf mit hellem Jubelschrei
Zur Sonne!

Anna Ritter

Anna Ritter, geborene Nuhn (1865-1921), deutsche Schriftstellerin, Dichterin

Bildnis:Anna Ritter (1865-1921)

Einsamkeit

Frohen Herzens bin ich in die Welt gegangen

Einsamkeit

Frohen Herzens bin ich in die Welt gegangen
Und voll Sonne war mein junger Blick,
Doch nun kehrt' ich mit verhärmten Wangen
Wieder zu der Einsamkeit zurück.

Und ich sehe wunschbefreit und weise
In das bunte Schicksalseinerlei,
Kaum verspür ich's noch, so leise, leise
Rinnt an mir die Jugendzeit vorbei.

Immer werden meine Blicke weiter,
Selig halt' ich eine Welt umspannt,
Denn ich blicke froh und wissensheiter
In des Lebens unbegrenztes Land.

Hieher dröhnt kein Wächterschritt der Stunden,
Unbemerkt verbraust mein herbes Leid,
Langsam narben meine tiefen Wunden
Von der weichen Hand der Einsamkeit.

Meiner Seele nahm ich dumpfe Riegel,
Und geöffnet prangt der Wunderschrein,
Ewig lernend blick' ich in den Spiegel
Meiner eignen neuen Welt hinein.

Was sich dort im Leben ohne Ende
Streitet, blendet, schlägt und überschreit
Liegt hier, Farben, Töne, wie in Bände,
Meinem Willen nach, geformt, gereiht.

Jedes Wesen fürchtet meinen Willen
Hier im engen – unbegrenzten Raum
Jede Sehnsucht weiß ich zu erfüllen. –
Wirklichkeit entblüht dem Dichtertraum.

Und wenn heimlich dann an manchen Tagen
Meine Sehnsucht hin zum Leben zieht
Brauch ich dieses Buch nur aufzuschlagen
Und die Seele schaut und wird nicht müd . . .

Stefan Zweig

Stefan Zweig (1881 – 1942), österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Pazisfist

Ewige Jugend

Wer nicht alt wird in jungen Jahren

Ewige Jugend

Wer nicht alt wird in jungen Jahren,
Wird ewige Jugend nicht bewahren.

nach Rahel

Paul Heyse

Paul Johann Ludwig Heyse (1830 – 1914) deutscher Schriftsteller, Übersetzer, Dramatike

Jung sein ist Glück

Jung bleiben ist mehr

Jung sein ist Glück und vergeht wie Dunst,
Jung bleiben ist mehr und ist eine Kunst.

Friedrich Theodor Vicher

Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Schriftsteller

Altersstufen der Menschen

halten einander für verschiedene Rassen

Altersstufen der Menschen

Die verschiedenen Altersstufen der Menschen halten einander für verschiedene Rassen. Alte haben gewöhnlich vergessen, dass sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, dass sie alt sind, und Junge begreifen nie, dass sie alt werden können.

Kurt Tucholsky

Kurt Tucholsky (1890 – 1935) deutscher Schriftstellerin, Journalist, Lyriker, Kabarettautor, Satiriker, Romanautor. Jurist, Liedtexter, Literatur-, Film-, Musikkritiker. Texter für Bühnenstücke

aus: ‚Die Weltbühne‘ 16.06.1931. Seite 889