Herbsttag

Der Sommer war sehr groß

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. 

Rainer Maria Rilke 

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) österreichischer Lyriker deutscher und französischer Sprache

Zitronenfalter im April

Ein Tröpfchen Honig

Citronenfalter im April

Grausame Frühlingssonne,
Du weckst mich vor der Zeit,
Dem nur in Maienwonne
Die zarte Kost gedeiht!
Ist nicht ein liebes Mädchen hier,
Das auf der Rosenlippe mir
Ein Tröpfchen Honig beut,
So muß ich jämmerlich vergehn
Und wird der Mai mich nimmer sehn
In meinem gelben Kleid.

Eduard Mörike

Eduard Friedrich Mörike (1804 – 1875) deutscher Lyriker, Autor von Prosatexten, Pfarrer

aus: ‚Gedichte‘ 1867. Eduard Mörike. Verlag der JG Cotta’schen Buchhandlung. Seite 377

Frühling, Frühling!

dem Zauber, der schon im Worte liegt

Frühling, Frühling!

Frühling, Frühling! Welche Zunge vermöchte ihn auszusagen, dem Zauber, der schon im Worte liegt und das Herz schlagen läßt voll süßer Sehnsucht und seelige Hoffnung.

Sophie Alberti

Sophie Alberti (1826 – 1892) Deutsche Schriftstellerin, Dichterin, Erzählerin, Kinderbuchautorin, Übersetzerin

aus: ‚Ein Sohn des Südens‘ Roman, 1859. Berlin, Verlag H.W. Müller, Berlin. Veröffentlichung unter ihrem Pseudonym Sophie Verena

Herbst

Tausend Becher machen die Menge heiter und froh, Du allein bist im Herzen betrübt.

Nacht fiel,
Reif tötete deine Bäume,
Die dürren Blätter warten nicht,
bis sie gelb sind,
Unruhig fallen sie hin.
Bang hielten in dir schlimme Stimmen,
Es fängt dir die Enge;
Dein Fuß zertritt tote Blätter,
Die im Wind sich krümmen.
Im Westen trinken sie Wein bei ihren Festen.
Gesang und Glocken locken in zwölf Straßen,
Tausend Becher machen die Mengen heiter und froh.
Du allen bis im Herzen betrübt.
Der helle Tag über dem Haupt flieht,
Der rote Anblick im Spiegel verfällt,
Das Leben ist eine sich wandelnde Wolke,
Das grüne Herz wird grau, grau, tote Asche.

Bay Juyi

Bay Juyi (772 – 846), chinesischer Dichter, Musiker und Politiker

Späte Sonnen

Ein spätes Flimmern recht auf Laub und Hag

Späte Sonne

Der Puls des Lebens ist der Nachmittag,
Wann sich die Sommerlichter seltsam färben
Und wie betäubt in gelber Glut erstreben
Im schweren Gold, dem unser Herz erlag.

Ein spätes Flimmern recht auf Laub und Hag,
Die langsam uns verzehren und verderben.
Und wie ein edler Wein aus dunklen Scherben
Rennt unser Blut,
das nichts mehr hemmen mag.

O laß den Schlummer nicht die Lider schließen,
Daß nicht der trunknen Klarheit stummes Fließen.
Dein Herz durchdringt, das freme Wunder schaut!

Die Strahlen brennen und ihr Gift ist tödlich:
O harre aus, bis dämmerhaft und rötlich
Der Abend auf die blassen Bäume taut.

Wolf von Kalckreuth

Wolf von Kalckreuth (1887 – 1906), deutscher Dichter, Übersetzer

aus ‚Holländische Landschaften, Acht Sonneten, Verlag Daphnis-Presse 1920

Es gab nur 40 Ausgaben davon.

‚Gedichte‘, Insel-Verlag zu Leipzig, 1908

‚Nicht gleicht der Süße deiner Worte‘ und weitere aus dem Band

Herbstgrillen

Es schwirrt und schwirrt so dumpf am Fenster unten

Herbstgrillen

Es schwirrt und schwirrt so dumpf am Fenster unten

Es summt und summt so tief im Bambus drinnen;

Herbst der Natur Sehnsucht dem Wolken ins Herz

Regen der Nacht Wehmut dem Manne im Ohr

Bai Juyi

Bai Juyi (772 – 846), chinesischer Dichter