Eine kleine Ballade

Sie wohnte vier Treppen

Eine kleine Ballade

Sie wohnte vier Treppen,
Er unten im Keller,
Und beide hatten sie keinen Heller.

Wohl litten sie nicht Hunger und Not,
Doch was sie verdienten mit ehrlichem Sinn,
Das reichte so gerade zum Leben hin.

Jung waren sie beide und lebensfroh,
Machten sich weiter keine Sorgen.
Kam heute das Glück nicht, kam’s wohl morgen.

Kehrten arbeitsmüd’ sie am Abend heim,
So schauten beide zum Fenster hinaus
Und sahen nach dem Glücke aus.

Aus dem Dache sah sie,
Aus dem Keller sah er,
Und mancher Seufzer flog hin und her.

An einem heissen Maientag
Sprach er sie schüchtern drunten an,
Als sie die Treppen zu steigen begann.

»Da oben ist’s wohl jetzt schön heiss?«
»Ja,« lacht sie, »ja, der Sonnenschein
Heizt etwas stark mein Zimmerlein.«

»Und zu mir kommt gar keine Sonne herein.«
»Nun,« meint sie mit einem fröhlichen Nicken,
»Ich werd’ etwas Sonne hinunterschicken.«

»Dürfte ich sie nicht holen kommen?«
»Nein, i bewahre!« Und im Lauf
Rennt sie die vier Treppen hinauf. – – –

Doch seltsame Dinge geschehen im Mai,
Am selben Abend, der Mond schien herein,
Holte er noch seinen Sonnenschein.


Alice Berend

Alice Berend (1875 – 1938), deutsche Schriftstellerin

Der Rabe

Doch ein Knabe kommt des Wegs daher

Der Rabe

Ein armes Nest im alten Baum.
Wo die Winde ziehen am Heidesaum,
Wo die Wolken fliegen so pfeilgeschwind:
Da haust der Rabe mit Weib und Kind.
Und düster brütet im kahlen Land
der herbstliche Abendsonnenbrand.
 

Da piepst auf einmal das Rabenkind:
Sag' Vater, woher all' die Würmer sind,
Die du mir zum Geschenk gemacht - ?
Hat sie der liebe Gott gebracht?
Hast du sie gekauft beim Krämersmann?
Hast du sie gefunden im wilden Tann?
»Mein liebes Kind, sie sind gestohlen,
Deine Mutter hat sie als schmackhaft empfohlen.«

Der Rabe spricht: Diebstahl ist Pflicht,

Das siebente Gebot versteh ich nicht.
 

Ein altes Weib in verzweifeltem Mut
Wohl an dem morschen Baumstamm ruht,
Sie weiß nicht, wie sie den Hunger stillt,
Ihr Herz vor Elend und Jammer schwillt.
Da sieht sie plötzlich im Niedersinken
Ein Äpfelchen aus dem Grase blinken.
 

Doch ein Knabe kommt des Wegs daher,
Der thut gar wichtig und spreizt sich sehr,
Und als er das alte Weiblein erblickt,
Wie sie den Apfel hält, stumm und beglückt,
Springt er herzu, entreißt ihr die Frucht
Und ergreift mit der leichten Beute die Flucht.

Der Rabe spricht: Diebstahl ist Pflicht,

Das siebente Gebot versteh ich nicht.
 

Und wie der Morgen kämpft mit der Nacht
Und die Nebel ziehen mit schwerer Macht,
Da stößt aus dem Dunkel ein Geier hervor,
Der trägt das Rabenkind hoch empor
Und fliegt mit ihm weit in den Äther hinan
Zum stillen Fraß auf stiller Bahn.

Der Rabe spricht: Das ist gemein,

Wie niedrig, solch ein Dieb zu sein!

Jakob Wassermann

Jakob Wassermann (1873 – 1934), deutscher Schriftsteller

Ehrgeiz

ist für die Seele

Der Ehrgeiz ist für die Seele, was der Hunger für den Leib ist.

Ludwig Börne

Ludwig Börne (1786 – 1827), deutscher Journalist, Literatur- und Theaterkritiker, Schriftsteller und Publizist