Die wilden Schwäne

Noch ist der Glanz der Frühe nicht erschienen,

Die wilden Schwäne

Noch ist der Glanz der Frühe nicht erschienen,
Ich höre, wie der Wind am Fenster rüttelt,
Und meine Träume schwinden ganz dahin.

Ich steige aufwärts in das Aussichtszimmer,
Einst rührt ich hier mit meiner schönen Nadel
Aus Jade sinnend in der Glut der Kohlen.

Jetzt ist die Glut dahin. Es ist vergebens,
Daß meine Nadel durch die Asche tastet,
Ich seh in das Gebirge, schmerzumflort.

Ein grauer Regen düstert in der Landschaft.
Der Nebel weht. Der Fluß wälzt schwere Wogen, -
Doch meinen Jammer wälzt er nicht hinweg.

Auf meines Umhangs dunkelm Tuche schimmert
Der Regen meiner bitterlichen Tränen;
Die wilden Schwäne schreien unter mir.

Ich schüttle meine armen Tränen nieder
Auf die erwachten Vögel, - fliegt, o Vögel!
Bringt meine Tränen ihm, der mich verzehrt!


Li Tsching-dschau

Li Tsching-dschau (1083 – 1151), chinesische Dichterin. Auch Li Qingzaho; Li Qing Zhao

Legt in die Hand das Schicksal dir ein Glück

Mußt du ein andres wieder fallen lassen

Legt in die Hand das Schicksal dir ein Glück
Mußt du ein andres wieder fallen lassen;
Schmerz wie Gewinn erhältst du Stück um Stück,
Und Tiefersehntes wirst du bitter hassen.

Des Menschen Hand ist eine Kinderhand,
Sie greift nur zu, um achtlos zu zerstören;
Mit Trümmern überstreuet sie das Land,
Und was sie hält, wird ihr doch nie gehören.

Des Menschen Hand ist eine Kinderhand,
Sein Herz ein Kinderherz im heftgen Trachten.
Greif zu und halt!... Da liegt der bunte Tand;
Und klagen müssen nun, die eben lachten.

Legt in die Hand das Schicksal dir den Kranz,
So mußt die schönste Pracht du selbst zerpflücken;
Zerstören wirst du selbst des Lebens Glanz
Und weinen über den zerstreuten Stücken.

Wilhelm Raabe

Wilhelm Karl Raabe (1831 – 1910), deutscher Schriftsteller, Erzähler. Pseudonym: Jakob Corvinus

An den Spiegel

Du rechtes Freudenwerk von früh an bis zu Nachte

An den Spiegel

O Du drei- viermal mehr glückseliger als ich!
Der du der Liebsten Glanz in deinem Auge trägest,
und selbst zu lieben sich das schöne Kind bewegest,
daher sie nur wird stolz, sieht weit hin über mich,


Gibt ihre Gunst ihr selbst, und achtet mehr auf dich,
Indem du bist bemüht, und höchsten Fleiß anlegest,
daß du dich, wie sie sich, an allen Gliedern regest,
durch dich schaut sie sich an, und redet selbst mit sich.


Du rechtes Freudenwerk von früh an bis zu Nachte,
wie mach' ich’s, daß ich sie doch einmal so betrachte,
als wie du allzeit tust? So mein' ich kann es geh’n,


Versuch es einen Tag, und gönne mir dein Glücke.
Und daß ich wieder gleich in ihre Blicke blicke,
So laß dies Auge hier an deine Stelle steh’n.

Paul Flemming

Paul Flemming (1609 – 1640), deutscher Schriftsteller, Dichter, Arzt