An die Wolken
Es jagen die Stürme
Am herbstlichen Himmel
Die fliehenden Wolken;
Es wehen die Blätter
Des Haines hernieder,
Es hüllt sich in Nebel
Das ferne Gebirg. -
O jaget, Ihr Wolken,
In stürmender Eile.
Ihr ziehet nach Süden,
Wo freundlich die Sonne
Den wehenden Schleier
Euch liebevoll schmücket
Mit goldenem Saum.
Mich trieben die Stürme
Des Schicksals nach Norden
Dort mangelt mir ewig
Die Sonne der Freude,
Und nimmer verkläret
Ihr Lächeln die Wolken
Des düsteren Sinnes.
Und darum geleit’ ich
Mit Seufzern der Sehnsucht
Euch, luftige Bilder
Der wechselnden Laune
Des ewigen Himmels,
Und flüchtete gerne
Nach Süden mit Euch.
Natalie
Charlotte von Ahlfeld
Charlotte Elisabeth Luise Wilhelmine von Ahlefeld (1781 – 1849). Pseudonyme: Elisabeth Selbig, Natalia, Emetine, Frau Charlotte Seebach Felicitas, Elise Selbig, Marie Müller. Deutsche Schriftstellerin, Dichterin
aus: „Gedichte von Natalie“ Charlotte von Ahlefeld. Verlag: Berlin, Johann Friedrich Unger, 1808. Seite 57
Zeichnung: Charlotte von Ahlefeld (1781 – 1849)
Bleistiftzeichung von Ferdinand von Blumenbach um 1800
Der Seufzer.
Ein Seufzer lief Schlittschuh auf nächtlichem Eis
und träumte von Liebe und Freude.
Es war an dem Stadtwall, und schneeweiß
glänzten die Stadtwallgebäude.
Der Seufzer dacht an ein Maidelein
und blieb erglühend stehen.
Da schmolz die Eisbahn unter ihm ein -
und er sank - und ward nimmer gesehen.
Christian Morgenstern
Christian Morgenstern (1871 – 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer
aus: „Galgenlieder – nebst der Gingganz. Elfte Auflage. Verlag von Bruno Cassirer, 1913. II. Seite 21
Blumen
Blumen, ihr Engel der Erde!
Mit zartesten Flügeln,
wunderbar schimmernd im Tau.
Kindlich blüht ihr in Gärten
und samtenen Wiesen.
Umrandet den Waldweg
und das silbersprudelnde Bächlein.
Den Menschen Freude und Sinnbild
des himmlisch heiteren Lebens.
Arm und weihelos ist ein Fest,
keine Liebe,
ohne euch, Strahlende!
Und die Locken schmückend
der Mädchen, der innigschlanken,
erhöht ihr umduftend
die ewigen Reize
der Jugend.
Francisca Stoecklin
Francisca Stoecklin (1894-1931), Schweizer Schriftstellerin, Dichterin, Malerin, Erzählerin
Ohne Liebe ist keine Freude
Kan die Welt auch wohl bestehen
ohn der Sonnen klahres Liecht?
kan man in der Nacht auch sehen /
wenn da Stern und Mond gebricht?
kan ein Schiffman auch wohl lachen
wenn sein Schiff begündt zu krachen?
Eben wenig kan ich leben /
wenn mir meine Dorile /
nicht ihr klares Liecht wil geben;
Eben wenig ich besteh /
wenn sie nicht mein Schiff regieret /
und durch ihre Freundschafft führet.
Springt ein Rehbock bey der Mutter /
mehr nicht / als er sonsten tuht?
hat ein Pferd bey vollem Futter /
auch nicht einen frischen Muht?
Also kan ich besser leben /
wenn ihr Liecht mir wird gegeben.
Zweyen Herzen / die sich lieben /
ist die allerhöchste Pein /
und das grösseste Betrüben /
wenn sie nicht zusammen sein /
weil sie sonsten nichts gedencken /
alß nur Arm in Arm zu schrenken.
Wie die Ulmen üm den Reben
gleichsam als verliebt sich drehn:
Also wündsch ich auch / mein Leben /
bey dir umgefast zu stehn /
und dir etwas vor zusagen
von den süssen Liebes=Plagen.
Darüm wil ich mich bemühen
auff mein Fretow hinzuziehn /
und mein Leben selbst nicht fliehen /
weil ich sonst erstorben bin /
alß denn wird sie mich erfreuen /
und mir meinen Geist verneuen.
Darüm wil ich gerne lassen
der Tollense Liebligkeit /
wil mein Leben selbst nicht hassen /
weil es nuhr erlaubt die Zeit;
weg mit disen schlechten Auen /
ich wil bald mein Fretow schauen.
Sibylle Schwarz
Sibylla Schwartz (1621-1638), deutsche Dichterin
aus: „Sibylle Schwarzin Vohn Greiffswald aus Pommern Deutsche Poëtische Gedichte“ von Sibylle Schwarz, posthum 1650. Seite 60 – 61
Lied
Liebe legt ihr schlaflos gesicht
Auf dornige rosige schicht ·
Ihre augen von tränen waren rot ·
Ihre lippen waren bleich und tot.
Und angst mit hohn und gram
An ihr bett zu wachen kam ·
Bis die nacht überwältigt entfloh
Und die welt wieder morgen-froh.
Und freude kam mit dem tag
Und küsst' ihren mund der da lag ·
Und der wächter gespenstische schar
Vom kissen entwichen war.
Mit dem frührot ward hell ihr gesicht ·
Ihre lippen wurden rosig und licht.
Herrscht der gram auch durch eine nacht:
Am tag hat die lust wieder macht.
Algermon Charles Swinburne
Algermon Charles Swinburne (1837 – 1909) englischer Dichter, Schriftsteller Dramatiker
aus: „Zeitgenössische Dichter, Erster Teil: Rossetti, Swinburne, Dowson, Jacobsen, Kloss, Verwey, Verhaeren“ Gesamtausgabe der Werke, Band 15. von Stefan George. Übertragung von Stefan George. Berlin, 1929. England. Lieder und Balladen. Seite 43
Auf die Phantasie
Laß die Phantasie nur schweifen,
Freude will zuhaus nicht reifen;
Denk, dein kleines Glück zerfließt:
Regen, der aufs Pflaster gießt.
Drum laß Phantasie nur streifen,
Weiter als Gedanken schweifen,
Riegle auf des Geistes Tor –
Lichtwärts segelt sie empor.
Süße Phantasie laß frei,
Sommers Freude flieht vorbei,
Und des Lenzes liebe Lust
Welkt wie all sein Blütenblust;
Herbstes rote Früchte auch –
Rot von Tau und Nebelrauch –
Sind dir Überdruß. Was nun?
Still am Herde sollst du ruhn,
Wenn die Glut zu Glanz entfacht
Geistert durch die Winternacht.
Wenn die Erde stumm und kalt
Und der Schnee sich klebrig ballt
Um des Bauern plumpen Schuh,
Nacht sich dehnt der Mittnacht zu
Und aus ihrem Dunkelland
Alles Wirkliche verbannt,
Ruhe dann und laß von hinnen –
Ehrfurcht leite dies Beginnen –
Phantasie zu hohem Flug!
Genien dienen ihr genug.
Winter weiß nur Frost zu weben –
Sie wird Schönheit wiedergeben,
Alles bringt sie wieder dar:
Sommer, der dir glühend war,
All des Maimonds Blütenlast,
Tauigen Stiel und dornigen Ast;
All des Herbstes reifen Segen,
Frucht und Duft und sanften Regen,
Mischt sie dir zu seligem Trank –
Schlürfe ihn und sag ihr Dank.
Schlürfe ihn – und zu dir zieht,
Ferneher ein Erntelied;
Reife Halme hörst du fallen,
Hörst den Sang der Nachtigallen,
Lerchenlust, die im April
Nie den Jubel enden will;
Hörst den rauhen Ruf der Krähen,
Die nach Halm und Reisig spähen,
Und du siehst im ersten Grün
Enzian und Primeln blühn,
Lilien in weißer Pracht,
Rose, die zur Sonne lacht,
Und das mailiche Frohlocken
Blauer Hyazinthenglocken,
Zweige, Blätter, Blütentaschen,
Die der Regen blank gewaschen.
Siehst die Feldmaus, die erwacht
Lugt aus ihrem Winterschacht,
Schlange, die vom Schlafen mager,
Lauert im durchsonnten Lager;
Siehst den Dornbusch Nestchen wiegen,
Drin gefleckte Eier liegen,
Und im moosigen Bett versteckt
Feldhuhn, das die Flügel streckt.
Hörst die Bienen, die im Grün
Summend hin und wieder ziehn,
Eicheln, die zu Boden schlagen,
Und des Herbstwinds Sang und Klagen.
Süße Phantasie, laß frei!
Alles wird zum Einerlei,
Selbst der Liebsten rosige Wangen
Scheinen nicht wie einst zu prangen.
Wo ist wohl der reife Mund,
Der dir neu zu jeder Stund?
Wo ein Antlitz, noch so hold,
Dem man stets begegnen wollt?
Wo die Stimme, noch so lieb,
Die uns stets ein Wohlklang blieb?
Denk dein kleines Glück zerfließt:
Regen, der aufs Pflaster gießt.
Drum laß Phantasie sich schwingen,
Sie wird dir ein Traumbild bringen,
Süß, wie einst Proserpina,
Eh der Gott der Qual sie sah,
Weiß von Leib und weiß von Lenden,
So wie Hebe, als in Händen
Sie den Becher hob und klirrend,
Jupiter den Sinn verwirrend,
Daß sein Blick sich Sehnsucht trank,
Gürtel ihr und Kleid entsank.
Auf das Netz! Gib frei die Zügel!
Schon hebt Phantasie die Flügel.
Tore auf! Sie will entschweben,
Um dir all dies Glück zu geben. – –
Laß die Phantasie nur schweifen,
Freude will zuhaus nicht reifen.
John Keats
John Keats (1795 – 1821), britischer Dichter
aus: „Gedichte“ von John Keats. Übertragung von Gisela Etzel. Insel-Verlag zu Leipzig, 1910. Seite 27 – 29
Agonia
When our delight is desolate,
And hope is overthrown ; And when the heart must bear the weight
Of its own love alone ;
And when the soul, whose thoughts are deep,
Must guard them unrevealed, And feel that it is full, but keep
That fulness calm and sealed ;
When Love s long glance is dark with pain
With none to meet or cheer ; And words of woe are wild in vain
For those who cannot hear ;
When earth is dark, and memory
Pale in the heaven above The heart can bear to lose its joy,
But not to cease to love.
But what shall guide the choice within,
Of guilt or agony, When to remember is to sin,
And to forget to die ?
John Ruskin
wodurch du nichts anderes als Freude gewinnen kannst
Du bist zum Genuss geschaffen, und die Welt ist voller Dinge, die du genießen wirst, sofern du nicht zu stolz bist, dich an ihnen zu erfreuen, und zu gierig, dich um etwas zu kümmern, wodurch du nichts anderes als Freude gewinnen kannst. Denke daran, daß die schönsten Dinge in der Welt die nutzlosesten sind: Pfauen und Lilien.
John Ruskin
aus: ‚Les Pierres de Venise – études locales pouvant servir de direction aux voyageurs séjournant à Venise et à Vérone‘ von John Ruskin. Verlag: Paris, Librairie Renouart, 1921