Mein Falke

O Sehnsucht, wilder Falke mein

Mein Falke

O Sehnsucht, wilder Falke mein,
Willst du auch müde werden?
Dess' Heimat hoch im Blauen war,
Behagt's dir nun auf Erden?

Wie oft hast du den jungen Sinn
Aus diesen grauen Tagen
Hoch über Sorge, Not und Leid
Getragen.

Bis mir das dunkle Tal entschwand
Im märchenweiter Ferne
Und um mein glühend Haupt sich bog
Das Diadem der Sterne.

Nun beugst auch du die stolze Stirn
Und läßt die Flügel hängen,
Nun hat auch dich die Sorgenfrau
Gefangen.

Brich deine Fesseln, Wanderfalk,
Und hebe dein Gefieder -
Siehst du die Sterne droben glühn,
Hörst du die süßen Lieder?

Es ist die Heimat, die uns ruft,
Sie lockt mit Lust und Wonne,
Steig auf mit hellem Jubelschrei
Zur Sonne!

Anna Ritter

Anna Ritter, geborene Nuhn (1865-1921), deutsche Schriftstellerin, Dichterin

Bildnis:Anna Ritter (1865-1921)

Der verflogene Falke

Auf des Bauernhaufen Balken

Der verflogene Falke

Hielt einmal ein König mächtig
Einen Edelfalken prächtig,
Und ihn auf der Hand zu tragen
War sein einziges Behagen.
Einst, zum Jagen ausgesendet,
hat er sich zur Flucht gewendet;
Und auf seines Daches Balken
Fand ein Bau'r den Edelfalken.
Müde schien er von der Reise,
Laden wollt' er ihn zur Speise.
Doch er sah die scharfen Fänge
Und des krummen Schnabels Länge.
"Gerstenkörnchen aufzupicken
Wird der Schnabel sich nicht schicken,
Und es werden diese Krallen
Dir im Sehn beschwerlich fallen."
Also stutzt er ihm die Fänge,
kürzet ihm des Schnabels Länge,
Und als er ihn ganz verschändet,
Glaubt er alles wohl vollendet.
Hat indes der Fürst befohlen,
Seinen Flüchtling einzuholen.
Auf des Bauernhaufes Balken
Finden sie den Edelfalken,
Den entadelten, und bringen
Ihn zurück mit schlappen Schwingen.
Doch der König ihn berachtend,
Erst bedauernd, dann verachtend,
"Mir hinweg vom Angesichte,"
Rufet er, "mit diesem Wichte!
Werfet ihn hinab die Stufen
Und laßt über ihm ausrufen:
Dieses ist die Strafe dessen,
Der so pflicht= als ehrvergessen,
Seine Stell' und einen passend
Ehrenvollen Dienst verlassend,
Wilder Luft nach, dahin rennet
Wo man seinen Wert nicht kennet."

Friedrich Rückert

Freimund Raimar (1788 – 1866),, deutscher Dichter, Lyriker und Übersetzer arabischer, hebräischer, indischer, persischer und chinesischer Dichtung