Der Fuchs und die Trauben
Ein Fuchs, der auf die Beute ging,
Traf einen Weinstock an, der, a voll von falben Trauben,
Um einen hohen Ulmbaum hing,
Sie schienen gut genug, die Kunst war abzuklauben.
Er schlich sich hin und her, den Zugang auszuspähn;
Umsonst, es war zu hoch, kein Sprung war abzusehn.
Der Schalk dacht in sich selbst: ich muß mich nicht beschämen;
Er sprach, und macht dabei ein hämisches Gesicht:
"Was soll ich mir viel Mühe nehmen,
Sie sind ja saur und taugen nicht!"
So geht’s der Wissenschaft: Verachtung geht für Müh,
Wer sie nicht hat, der tadelt sie.
Albrecht von Haller 1732
Albrecht Viktor Haller (1708 – 1777), Schweizer Mediziner, Anantom, Naturforscher, Enzyklopädist, Dichter, Bibliograf
Aus: „Gedichte“ von Albrecht von Haller. Verlag: J. Huber, 1882. Frauenfeld. XXV. Seite 188 – 189
Die Katze und die Maus
Einst spielte eine Katze
Mit einer kleinen Maus.
»Lauf', Mäuschen!« sagte sie, und warf die scharfe Tatze
Liebkosend nach, ließ auf und nieder
Sie laufen, fing sie wieder
Und sah vergnügt und freundlich aus.
»Ach, liebe Katze!« sprach die Maus,
»Ich kenne diese Schmeicheleien
Und diese Scherze; ach! sie dräuen
Mir armem Mäuschen bittern Tod!«
»Was?« sprach die Katze, »das ist Spott!«
Und biß sie todt!
J. W. L. Gleim
Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) deutscher Dichter, Sekretär, Fabeldichter, Schriftsteller, Aufklärer
aus: „Lieder, Fabeln und Romanzen“ von Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Verlag: Iversen, Leipzig, 1758. Sechste Fabel. Seite 11
Dschami's Fabeln
Das Kamel im Mausloch
Mit gebundnen Füßen ging
Das Kameil sein Futter pflücken;
Eine Maus, das kleine Ding,
Sah von fern den Höckerrücken,
Wollte sehn, ob's groß und hoch
Nicht ging' in ihr Mauseloch.
Mäuslein zieht am Strick mit Lift,
Und das Tier es folgt dem Zuge;
Denn gehorsam jeder Frist
Seinem Führer folgt das Kluge;
Folgt, so lang das Mäuslein sieht.
Soll ich, spricht es, da hinein?
Siehe zu, was du beginnest!
Ich bin groß, und es ist klein;
Das du Schaden nicht gewinnest!
Kann's für mich erweitern sich?
Nicht verdünnen kann ich mich.
Doch das Mäuslein saß im Loch,
Bräuchte sich allein das kluge,
Zog und ziehet immer noch,
Folgt das Trampeltiere dem Zuge,
Und ein Tritt von ihm zertrat
Mäuslein und den Mäusestaat.
Dschāmi (1414 - 1492), persischer Mystiker, Dichter
Übersetzt von Friedrich Rückert (1788 - 1866)
Freimund Raimar (1788 – 1866),, deutscher Dichter, Lyriker und Übersetzer arabischer, hebräischer, indischer, persischer und chinesischer Dichtung
aus: „Erbauliches und Beschauliches aus dem Morgenlande“ von Friedrich Rückert. Verlag von Gustav Bethke, Berlin , 1837 Seite 97 – 98
Dschami's Fabeln
Die Schildkröte im Brunnen
Es war ein großer Garten,
hatt' einen reichen Herrn,
Der drin hielt aller Arten
Gewächs und Tiere gerne.
Es täten Quellen springen,
Und schöne Bäume blühn,
Und bunte Vögel gingen
Luftwandeln durch das Grün.
Der Pfaue sprach zum Raben:
Dein rotes Stieflein
Sollt' ich am Fuße haben;
Es muß verwechselt sein.
Als uns der Herr gewogen
hervorrief aus der Nacht,
hast du dir's angezogen,
Mir war es zugedacht.
Ich nahm von schwarzem Leder
hier dieses aus Vesehn;
Es paßt zu deiner Feder,
Zu meiner will's nicht stehn.
So paßt nur mein Gefieder
Zum roten Stieflein;
Gib mir, was mein ist, wieder,
Und nimm zurück, was dein!
Der Rabe sprach dagegen:
Ein Irrtum ist geschehn,
Doch nicht der Stiefel wegen,
Am Kleid liegt das Versehn;
Denn einsehn muß ein jeder:
Es paßt ein buntes Kleid,
Und keine schwarze Feder,
Zu diesem Fußgeschmeid.
Als und der Herr erweckte
Vom Schlaf mit seiner Hand,
War ich betäubt und steckte
Mein Haupt durch dein Gewand;
So streckest du das deine
Aus meines Röckleins Zier:
Gib mir zurück das meine,
Und nimm das deine dir! -
Ihr Streit war ungeschieden,
Da hob ihr leises Ohr
Aus eines Brunnen Friedern
Die Schildkröt' empor;
Sie sprach mit ernsten Tönen,
Und jene horchten gern:
Was wollt ihr habend höhnen
Die Weisheit eurer Herrn?
Es tat der Herr, der Meister,
Nur was ihm billig schien;
Nicht einem seiner Geister
hat alles er verliehn.
Er hat sein Gut verteilet
Zu vieler Pfründner Glück;
Und was im Garten weilet,
Ein jedes hat ein Stück.
Dem Pfauen, sich zu brüsten,
hat er gestickt das Kleid,
Dem Raben nach Gelüsten
Geschmückt das Fußgeschmeid.
Und wem er hat gegeben
Ein ungeschmücktes Sein,
Der dank' ihm auch das Leben,
Das den sehn sein Schmuck allein
Friedrich Rückert
Freimund Raimar (1788 – 1866),, deutscher Dichter, Lyriker und Übersetzer arabischer, hebräischer, indischer, persischer und chinesischer Dichtung
aus: „Erbauliches und Beschauliches aus dem Morgenlande“ von Friedrich Rückert. Verlag von Gustav Bethke, Berlin , 1837 Seite 79 – 82
Ein Narr sah einen Künstler an einem rohen Stein arbeiten. „Schade, schade“, sagte er, „daß der nicht poliert.“ Der Künstler: „Nein, Guter, wir Steinkünstler machen es nicht wie die Menschenkünstler. Diese gegen den Kindern eine vollendete Politur, eh sie auch nur daran denken, sie zu bearbeiten.“ – „Ja, ja!, sagte der Narr, „daß ist recht, das ist ganz so. Eben so solltet auch ihr es machen.“
Johann Heinrich Pestalozzi
Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827), Schweizer Pädagoge, Sozialreformer
aus: „Figuren zu meinem ABC-Buch oder zu den Anfangsgründen meines Denkens“. 1797 Pestalozzi