Der Rabe Ein armes Nest im alten Baum. Wo die Winde ziehen am Heidesaum, Wo die Wolken fliegen so pfeilgeschwind: Da haust der Rabe mit Weib und Kind. Und düster brütet im kahlen Land der herbstliche Abendsonnenbrand. Da piepst auf einmal das Rabenkind: Sag' Vater, woher all' die Würmer sind, Die du mir zum Geschenk gemacht - ? Hat sie der liebe Gott gebracht? Hast du sie gekauft beim Krämersmann? Hast du sie gefunden im wilden Tann? »Mein liebes Kind, sie sind gestohlen, Deine Mutter hat sie als schmackhaft empfohlen.« Der Rabe spricht: Diebstahl ist Pflicht, Das siebente Gebot versteh ich nicht. Ein altes Weib in verzweifeltem Mut Wohl an dem morschen Baumstamm ruht, Sie weiß nicht, wie sie den Hunger stillt, Ihr Herz vor Elend und Jammer schwillt. Da sieht sie plötzlich im Niedersinken Ein Äpfelchen aus dem Grase blinken. Doch ein Knabe kommt des Wegs daher, Der thut gar wichtig und spreizt sich sehr, Und als er das alte Weiblein erblickt, Wie sie den Apfel hält, stumm und beglückt, Springt er herzu, entreißt ihr die Frucht Und ergreift mit der leichten Beute die Flucht. Der Rabe spricht: Diebstahl ist Pflicht, Das siebente Gebot versteh ich nicht. Und wie der Morgen kämpft mit der Nacht Und die Nebel ziehen mit schwerer Macht, Da stößt aus dem Dunkel ein Geier hervor, Der trägt das Rabenkind hoch empor Und fliegt mit ihm weit in den Äther hinan Zum stillen Fraß auf stiller Bahn. Der Rabe spricht: Das ist gemein, Wie niedrig, solch ein Dieb zu sein! Jakob Wassermann
Jakob Wassermann (1873 – 1934), deutscher Schriftsteller
aus: Simplicissimus 1896 , 12. Jahrgang, Heft Nr.6, Seite 2