Drosselsang

Die Drossel sing, die Drossel singt

Drosselsang

Die Drossel singt, die Drossel singt
Dort drüben im Vogelbauer,
Sie kann ein Stückchen, das munter klingt,
Warum denn faßt mich ein Schauer?

Eine Drossel sang, eine Drossel sang
Ein Stückchen, genau das gleiche,
Zur Zeit, da ich so todesbang
Umging wie im Schattenreiche.

Verschlossen der Geliebten Haus,
Verstoßen aus meinem Himmel,
Gestoßen hinab in der Nachtwelt Graus,
In grinsender Larven Gewimmel!

's ist lange her, 's ist lange her,
Doch zuckt mir's durch die Glieder,
Doch wird die Seele mir so schwer,
Als erlebt' ich es eben wieder.

Friedrich Theodor Vicher

Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Schriftsteller

Die Drossel

Kleine Drossel aus den Kindertagen

Die Drossel

Kleine Drossel aus den Kindertagen,
ist‘ derselbe Wald noch, der dich trägt?
Bist du’s selbst, die mir mit ihrer Klagen
immer noch das alte Herz bewegt?

Ach, wie vieles sahen wir sich wandeln,
unsere ersten Verse, auch wie fern …
unser frühes Leiden, unser Handeln,
alles ist schon wie ein fremder Stern.

Nur durch deine Lieder schlingt sich leise
jene stille Kette, die nicht bricht,
eingeschlossen ruhst du in dem Kreise,
früber Gott den Abendsegen spricht.

Und wir selbst, in ewigen Verändern,
Lauschen fromm dir wie zur Kinderzeit,
ach, verweil‘ an unser Abendrändern,
kleine Zeugin du der Ewigkeit.

Ernst Wiechert

Ernst Wiechert (1887 – 1950) deutscher Schriftsteller, Lehrer

Gedicht aus: ‚Die letzten Lieder‘, Verlag Arche, Zürich. 1951