Distelfalter

Ein Brücklein überspringt die hohen Gartenmauern

 Distelfalter

Ein Brücklein überspringt die hohen Gartenmauern,
Und aus dem Brücklein überwuchern Hängeblumen,

Drunten im kühlen, mitternächt'gen Straßendurchgang
Blitzen, das Weberschiffchen streichend, flinke Fliegen.

Aber von oben, aus den riesigen Platanen
Durchs Blättersieb mit träumerischem Feuerregen
Rieseln die Sonnentropfen in den finstern Durchgang.

Da sprach zur Sonnenkönigin ein Distelfalter:

"Komm! schaff mir eine Leiter." Und sogleich die Sonne
Mit letzter Kraft sich drückend durch das dichte Laubwerk,
Stellt' einen breiten Strahl als Leiter auf das Brücklein.

Hüpfend vor Schwebelust, bestieg der Distelfalter
Die steile Leiter. Und mit klugem Flügelschlag
Das Gleichgewicht erzielend, sprang er leicht und tänzelnd
Die Stufen abwärts in den sonn'gen Blumennimbus.
Dort schaukelt' er und ritt, ein luftig Perpendikel,
Der Schönheit selbstbewußt und selbst die Schönheit schmückend,
Saugend und hauchend in den knospenden Gehängen.

Rötlichen Blumenscheins sein rostiges Gefieder
Zuckt' an den Schnüren und Girlanden auf und nieder.

Da rief vom Garten mit metallischem Geschrei
Ein Pfau. - Und alsobald der scheue Distelfalter
Mit Rösselsprüngen lief bergan die schwanken Stufen.

Dann hielt er auf der Lauer hinter den Platanen.

Doch als nun kein Geräusch und kein Ereignis weiter
Störte die Friedensruh, sprengt' er die sonn'gen Bahnen
Wieder herab zum Brücklein auf der Himmelsleiter.

Damals der Weltengeist, die weite Welt bereisend,
Zwar Städt' und Berg' und Täler maß sein Seherauge
Und Aller Leid empfand er in dem großen Herzen;

Doch unterm Brücklein, im bescheid'nen Straßendurchgang
Lehnt' er am Stein und schrieb es zum Vermächtnis
Des Allerseelentags ins ewige Gedächtnis.

Carl Spittlerer

Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem