leerer Kopf

leerer Schlauch

Den leeren Schlauch bläßt der Wind auf;

Den leeren Kopf der Dünkel.

*Drücke Sie dende, daß sie zu sich selbst kommen.

Matthias Claudius

Matthias Claudius (1740 – 1815), deutscher Dichter, Redakteur, Erzähler und Herausgeber des Wandsbecker Boten, Pseudonym Asmus

Stirbt die Kunst?

Die seltsame Frage ist jetzt zum zweiten Male aufgetaucht

Stirbt die Kunst?

Diese seltsame Frage ist jetzt zum zweiten Male aufgetaucht. Schon vor Jahresfirst hatte Moszkowski, der Chefredakteur der >Lustigen Blätter<, die Frage gestellt, in etwas unklarer Wiese behandelt und schließlich bejaht. Jetzt kommt ein Berufener, um sie abermals zu stellen und abermals zu bejahen: Victor Auburtin. Auburtin, der Schöpfer eines der feinsten deutschen Prosastücke: >Der Ambassadeut<, veröffentlicht in einen kleinen Hefte bei A. Langen-München Ansichten, die nicht nur die kleine Gruppe der Literaten angehen. Hier wird ein Problem der Massen behandelt! Und weil er mit seinem blitzenden Schwertlein so unvorsichtig herumgefuchtelt hat – getan hat er keinem etwas – darum wollen wir die Marionette des Kritikers Auburtin (nicht des Künstlers!) auf eine kleine Bühne stellen und ihn sprechen lassen. Hoppla!

Aber sachte! sachte! Immer ausreden lassen und nicht unterbrechen! Erst soll er uns erheitern und dann wir sehen. –

Und er sprich: >Kunst ist Verzückung, Raserei, Träumeri, Schwärmerei, Delirium … Kunst wuchs empor aus den dämmernden Kirchen, in denen (verlogene) Pfaffen beteten … Kunst entstand aus der Vagabondage und dem Elend des Schauspielers, aus den kleinen, eckigen Kleinstädten, die noch keine Kanalisation hatten, aber Idylle, – die Voraussetzungen der Kunst sind der Krieg, große Epidemien, Raubrittertum, regellose Unterordnung! – (spricht er.) Die Ordnung kommt, die soziale Organisation, die wenigstens das aller-, allerschlimmste zu beseitigen versucht … und nun stirbt dieKunst! -<

Vorhang.

Allerseitiges Staunen. Als – wie? … Die Masse (wer ist das übrigens?) ist schuld am Untergang der Kunst. Hm. Welche Mase? An welcher Kunst? Das wollen wir sehen?

Zunächst: Kunst ist gar nicht >Delirium, Schwärmen, TräumereiJa!< spricht die Marionette, >der könnte heute auch nicht mehr durchdringen, die Masse hat ja nicht die Geduld mehr, zu lesen.< – >Durchdringendurchgedrungenim eigentlichen Volke bleibe alles still<. – Für solche Erscheinungen hat nun Auburtin zwei Schemen: erstens: die Masse kümmert sich nicht um die Kunst. Natürlich, sagt er dann, wie sollte sie auch, diese – Masse! Zweitens: sie kümmert sich um die Kunst. Dann schreit er:>Die Kunststirbt an der Verpöbelung. Die Masse herrscht, und vor ihr hat alles zu kuschen. Sie verlangt billige Kunst und eine handfeste, deutliche Kunst, von der man doch etwas hat.< Ja! Aber das hat sie immer getan. Und doch ist die ganze subtile Kunst weiter gediehen, unbekümmert um die … die … Masse. Ja, wer war denn das eigentlich?

Hören wir: >Daß in einem wohlorganisierten Bürgerstaate die Kunst sterben muß, das lehrt uns die Kunstgeschichte Hollands.< – Aha! Das glaube ich, daß die dicke Mynheers für die Kunst nichst übrig gehabt haben. – In einem Bürgerstaate, sagt er – ist das unsere Zukunft? Sicher nicht. Sondern -? Ach, die Marionette stimmt ein Klagelied an: >Unsere Spezies geht einer Verameisung entgegen. Wie bei den Ameisen und Bienen der Staat alles, die Persönlichkeit nichts ist, wie bei ihnen die Freß- und Greiforgane auf Kosten des verkümmerten Gehirns sich entwickelten, so wird es auch bei uns geschehen, die wir unser Heil. auf das Dümmste und Gemeinste gestellt haben, auf die Arbeit. All das Feine und Leise, das der Muße und dem Eigensinn des Individuums entblühte, das wird verkümmern; schon in der Schule den Rotznasen die Nützlichkeit als das Höchste gepriesen; das ganze Lebend darauf eingerichtet, ja keine Minute zu verträumen, ja die Zeit fleißig zu verhämmern und verpochen, ja immer mitten im wimmelnden Haufen zu bleiben … In 250 Jahren, wenn die soziale Organisation glänzend durchgeführt worden ist, dann wird man den Dämon des Künstlers schon auf den Schulbänken gedusselt haben … Ich glaube, daß die menschliche Rasse einer gewaltigen Zukunft entgegengeht. Ich glaube an das Kommen friedlicher Demokratien, immenser, geeinter Argewiterschaften, die das Höchste wollen, und das Höchste erreichen werden. – Aber ich weiß, daß aus dem anonymen Gewimmel nie die reißend schemrzliche Strophe eines Liedes tönen wird, und sollte sie dennoch wieder einmal tönen, so wird sie nicht verstanden werden.>-

Er weiß das. Aber nun genug der Ironie, denn wir wissen etwas anderes: Daß jede Zeit den Ausdruck ihrer Gefühle selbst findet und die >Anemonen auchim April des Jahres 2361 nicht versäumen werden, zu blühen<. Auf derartige Einwendungen, sagt Auburtin, pfeife er. Nun, so wollen wir ihm eins trommeln. – So lange bis selbst er begriffen hat, daß die Massen sich nach der Kunst sehnen und für sie reif werden, und wenn der Pfeifer erklöärt, >es gäbe nichts greulicheres als Schillertheaterei und jene Volksbühnen, wo die Kunst braven Arbeitern zu Aschingerpreisen serviert werde< – so muß ihm getrommelt werden, daß die undisziplinierten Grinser im >Faus<, die er gesehen hat, schon längst zu den Ausnahmenzählen. Schon. Dank den Bemühungen der Volksbühnen.

Das Spiel ist aus. Wir hängen die Puppen samt Schwert und Tragik wieder an die Wand und verlassen das Bühnchen mit einer Frage im Ohr, die so recht zeigt, wie Auburtin der Kleine – denkt. >Damals<, sagt er, >zur Zeit Neros, da hat man schon das Ende der Kunst für gekommen gehalten, weil alles ausgeschöpft schien. SIe ahnten noch nicht die ungeheueren Barbarenmassen, aus denen wir uns erneuern knnen? Wo sind die Reserven?<-

Ich erlaube mir, Herrn Victor Auburtin auf die Existenz eines Proletariats aufmerksam zu machen.

K.T.

Kurt Tucholsky (1890 – 1935) deutscher Schriftstellerin, Journalist, Lyriker, Kabarettautor, Satiriker, Romanautor. Jurist, Liedtexter, Literatur-, Film-, Musikkritiker. Texter für Bühnenstücke

Kritik zu dem Buch: ‚Die Kunst stirbt‘ von Victor Auburtin (1870 – 1928) München Albert Langen Verlag, Erstausgabe 1911

Artikel erschienen im ‚Vorwärts‘ 27.06.1911

Rechts und links

Rechts sind Bäume, links sind Bäume

Rechts und links

Rechts sind Bäume, links sind Bäume,
und dazwischen Zwischenräume.
In der Mitte fließt ein Bach!
Ach!

Rechts hat man die Industriellen,
welche eine Presse wellen,
eine, die den Abonnenten
nationale fette Enten
täglich aufzubinden hat.
Und so fällt denn Blatt auf Blatt
in die Hände von Kartellen
unsrer Großindustriellen.
Und man schiebt sich dies und jenes,
weils bequem is und gemeen is.

Und die Aktie kommandiert –
die Verwaltung salutiert.
Helfferich ruft Weh und Ach …
In der Mitte fließt ein Bach.

Links hat man die neuen Helden,
die sich schon seit 18 melden,
wenns was zu vermitteln gibt.
(Dies Geschäft ist so beliebt.)
Barmat, Parvus, Sklarz Gebrüder –
Ei, man ist so brav und büder.
Die Regierung ist schockiert
und wird mächtig angeschmiert.
Manches Silber ist vernickelt,
mancher Handel ist verwickelt.
Reine Finger hab, wer kann!
Schlimmstenfalls zieh Handschuh an!

Rechts sind Schieber, links sind Schieber.
Jedes Antlitz ein Kassiber.
In der weiland großen Zeit
schob man Seins im grauen Kleid.
Sieh die Rechten, sieh die Linken –
und es will mich schier bedünken,

Rechts sind Bäume, links sind Bäume,
und dazwischen Zwischenräume.
In der Mitte fließt ein Bach –
Ach!

Theobald Tiger

Kurt Tucholsky (1890 – 1935) deutscher Schriftstellerin, Journalist, Lyriker, Kabarettautor, Satiriker, Romanautor. Jurist, Liedtexter, Literatur-, Film-, Musikkritiker. Texter für Bühnenstücke

aus: ‚Ulk‘, 27.02.1920, Nr. 9, Seite 34

Kurt Tucholsky wurde in Berlin geboren ist dort aufgewachsen. In diesem Gedicht benutzt er einige ‚berliner jargons (Slang, Sprache)

gültigen Weltenordung

sich in ständigen Rhythmus entzündet

gültigen Weltenordnung

Das Weltall in seiner für alle Lebewesen gültigen Weltordnung war,
ist und wird ewig sein ein sich lebendes Feuer,
das sich in ständigem Rhythmus entzündet und verlöscht.

Heraklit von Ephesos

Heraklit von Ephesos lebte um 520 / 550 v. Chr. – 460 / 480 v. Chr. Er war ein griechischer Philosoph.

im Wandel

im ewigen Fluss

im Wandel

Nichts ist so beständig wie der Wandel.
Alle Dinge sind im ewigen Fluss,
ein Werden,
ihr Beharren ist nur Schein.

Heraklit von Ephesos

Heraklit von Ephesos lebte um 520 / 550 v. Chr. – 460 / 480 v. Chr. Er war ein griechischer Philosoph.

Tiefen der Menschenseele

die Wandlungen eines Herzens

Tiefen der Menschenseele

Die Tiefen der Menschenseele sind unergründlich, die Wandlungen eines Herzens rätselhaft und unberechenbar.

Sophie Alberti

Sophie Alberti (1826 – 1892) Deutsche Schriftstellerin, Dichterin, Erzählerin, Kinderbuchautorin, Übersetzerin

aus: ‚Über alles die Pflichten‘. Verfasserin: Sophie Alberti. 1870, Berlin, Verlag Otto Jancke

Stumm betrachte ich den See

O lago nada me diz

Stumm betrachte ich den See
den eine Brise kräuselt.
Nichts weiß ich, wenn ich an das Ganze denke.
Oder es ist das Ganze, das mich vergisst?

O lago nada me diz,
nao sinto a brisa mexe-to
nao seise soa feliz
nem se desjo se-lo.
Tremulos vicos risonhos.
Na aqua a dormecida
por que fiz ea dos sombos
a spinha unca vida?

Fernando Pessoa

Fernando Pessoa (1888 – 1935), portugiesischer Schriftsteller, Dichter, Philosoph, Verleger, Übersetzer.

Gedicht aus: ‚Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernado Soares, Amman Verlag, Zürich 1985,

übersetzt und Nachwort von Georg Rudolf Lind (1926 – 1990). Erstveröffentlichung posthum 1982. Originaltitel von 1982