Der Lieblingsbaum Den ich pflanzte, junger Baum, Dessen Wuchs mich freute, Zähl ich deine Lenze, kaum Sind es zwanzig heute. Oft im Geist ergötzt es mich, Uber mir im Blauen, Schlankes Astgebilde, dich Mächtig auszubauen. Lichtdurchwirkten Schatten nur Legst du auf die Matten, Eh du dunkel deckst die Flur, Bin ich selbst ein Schatten. Aber haschen soll mich nicht Stygisches Gesinde, Weichen werd ich aus dem Licht Unter deiner Rinde. Frische Säfte rieseln laut, Rieseln durch die Stille. Um mich, in mir webt und baut Ew'ger Lebenswille. Halb bewußt und halb im Traum Über mir im Lichten Werd ich, mein geliebter Baum, Dich zu Ende dichten. Conrad Ferdinand Meyer
Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898), Schweizer Dichter
aus: „Gedichte“ von Conrad Ferdinand Meyer. Verlag von H. Haessel, Leipzig, 1882. Seite 49