Das Lied vom armen Kind

Der taube Mann, das blind

Das Lied vom armen Kind

oder
Wer zuletzt lacht, lacht am besten

Es war einmal ein armes Kind,
Das war auf beiden Augen blind,
Auf beiden Augen blind;
Da kam ein alter Mann daher,
Der hört auf keinem Ohre mehr,
Auf keinem Ohre mehr.
Sie zogen miteinander dann,
Das blinde Kind, der taube Mann,
Der arme, alte, taube Mann.

So zogen sie vor eine Tür,
Da kroch ein lahmes Weib herfür,
Ein lahmes Weib herfür.
Bei einem Automobilunglück
Ließ sie ihr linkes Bein zurück,
Das ganze Bein zurück.
Nun zogen weiter alle drei,
Das Kind, der Mann, das Weib dabei,
Das arme, lahme Weib dabei.

Ein Mägdlein zählte vierzig Jahr,
Derweil sie stets noch Jungfrau war,
Noch keusche Jungfrau war.
Um sie dafür zu strafen hart,
Schuf Gott ihr einen Knebelbart,
Ihr einen Knebelbart.
Sie flehte: Laßt mich mit euch gehn,
Ihr Lieben, laßt mich mit euch gehn,
So wird noch Heil an mir geschehn!

Am Wege lag ein räudiger Hund,
Der hatte keinen Zahn im Mund,
Nicht einen Zahn im Mund;
Fand er mal einen Knochen auch,
Er bracht' ihn nicht in seinen Bauch,
Ihn nicht in seinen Bauch.
Nun trabte hinter den anderen vier,
Wiewohl es am Verenden schier,
Das alte, räudige Hundetier.

Ein Dichter lebt' in tiefster Not,
Er starb den ewigen Hungertod,
Den ewigen Hungertod.
Mit Herzblut schrieb er sein Gedicht,
Man druckt es nicht, man liest es nicht,
Und niemand kennt es nicht.
Sein Leib war krank, sein Geist war wund,
Drum schloß er mit dem räudigen Hund
Der Freundschaft heiligen Seelenbund.

Und dann schrieb er zu Aller Glück
Ein wundervolles Theaterstück,
Ein wundervolles Stück,
In welchem die Personen sind
Der taube Mann, das blinde Kind,
Das arme, blinde Kind,
Das lahme Weib, die Jungfrau zart
Mit ihrem langen Knebelbart,
Die Jungfrau mit dem Knebelbart.

Und eh' die nächste Stund' entflohn,
Konnt' Jeder seine Rolle schon,
Die ganze Rolle schon.
Verständnisvoll führt die Regie
Das alte, räudige Hundevieh,
Das räudige Hundevieh.
Drauf ward das Schauspiel zensuriert
Und einstudiert und aufgeführt
Und ward ganz prachtvoll kritisiert.

Die Künstler fanden viel Applaus,
Man spannt dem Hund die Pferde aus
Und zieht ihn selbst nach Haus.
Da gab's nun auch Tantiémen viel
Und hohe Gagen für das Spiel,
Das ungemein gefiel. -
Nachdem sie ganz Europa sah,
Da reisten sie nach Amerika,
Nach Nord- und Südamerika.

Nun hört zum Schluß noch die Moral:
Gebrechen sind oft sehr fatal,
Sind manchmal eine Qual;
Frau Poesie schafft ohne Graus
Beneidenswertes Glück daraus,
Sie schafft das Glück daraus.
Dann schwillt der Mut, dann schwillt der Bauch,
Und sei's bei einer Jungfrau auch. -

Frank Wedekind

Benjamin Franklin Wedekind (1864 – 1918), deutscher Dichter, Dramatiker, Schauspieler

Der Rabe

Doch ein Knabe kommt des Wegs daher

Der Rabe

Ein armes Nest im alten Baum.
Wo die Winde ziehen am Heidesaum,
Wo die Wolken fliegen so pfeilgeschwind:
Da haust der Rabe mit Weib und Kind.
Und düster brütet im kahlen Land
der herbstliche Abendsonnenbrand.
 

Da piepst auf einmal das Rabenkind:
Sag' Vater, woher all' die Würmer sind,
Die du mir zum Geschenk gemacht - ?
Hat sie der liebe Gott gebracht?
Hast du sie gekauft beim Krämersmann?
Hast du sie gefunden im wilden Tann?
»Mein liebes Kind, sie sind gestohlen,
Deine Mutter hat sie als schmackhaft empfohlen.«

Der Rabe spricht: Diebstahl ist Pflicht,

Das siebente Gebot versteh ich nicht.
 

Ein altes Weib in verzweifeltem Mut
Wohl an dem morschen Baumstamm ruht,
Sie weiß nicht, wie sie den Hunger stillt,
Ihr Herz vor Elend und Jammer schwillt.
Da sieht sie plötzlich im Niedersinken
Ein Äpfelchen aus dem Grase blinken.
 

Doch ein Knabe kommt des Wegs daher,
Der thut gar wichtig und spreizt sich sehr,
Und als er das alte Weiblein erblickt,
Wie sie den Apfel hält, stumm und beglückt,
Springt er herzu, entreißt ihr die Frucht
Und ergreift mit der leichten Beute die Flucht.

Der Rabe spricht: Diebstahl ist Pflicht,

Das siebente Gebot versteh ich nicht.
 

Und wie der Morgen kämpft mit der Nacht
Und die Nebel ziehen mit schwerer Macht,
Da stößt aus dem Dunkel ein Geier hervor,
Der trägt das Rabenkind hoch empor
Und fliegt mit ihm weit in den Äther hinan
Zum stillen Fraß auf stiller Bahn.

Der Rabe spricht: Das ist gemein,

Wie niedrig, solch ein Dieb zu sein!

Jakob Wassermann

Jakob Wassermann (1873 – 1934), deutscher Schriftsteller

Mütterchens Traum

Wär ich reich, hätt‘ ich Geld

 Mütterchens Traum 

Wär ich reich, hätt' ich Geld,
Mir gehörte die ganze Welt!
Müsste jeden Tag vierspännig fahren,
Ein Heer von Dienern um mich scharen,
Thät mir einen Palast erbauen
Und nichts thun, als zum Fenster hinausschauen;

Ein goldnes Bett müsst ich besitzen
Und lauter Röcke von echten Spitzen
Und lauter Teller von Edelsteinen
Und einen Koch, einen recht feinen, -
Mir gehörte die ganze Welt,
Wär ich Reich, hätt ich Geld.

Seh ich die harten Thaler fliegen,
Die in den Kammern der Reichen liegen
Und wir haben kaum ein Stück Brot zu beissen,
Will mir schier das Herz zerreissen.

Seh ich die Leute auf allen Gassen
Mit frohen Gesichtern und vollen Kassen,
Seh ich die schön gekleideten Frauen,
Die kaum nach unsereinem schauen,
Seh ich die Läden voll Silber und Gold:

Und an den lieben Gott nimmer denkt,
Der uns kaum einen kurzen Sonntag schenkt.

Hab' einen guten Schatz in der Stadt;
Oft kommt er abends sterbensmatt
Und zählt mir ein paar Groschen hin
Von seinem spärlich Wochengewinn,
Oder ein Bröschlein oder ein Tuch,
Oder kölnisches Wasser für den Geruch,
Da steck ich dann die Nase hinein
Und denke: lieber Gott, reich lass mich sein,
Dass ich auch meinem Schatz was kaufen kann,
Denn er ist so ein gutherziger Mann.
Und sind wir auch nicht kirchlich getraut,
Bin ich ihm doch eine treue Braut.

Wär ich reich, hätt' ich Geld,
Mir gehörte die ganze Welt!
Linchen kriegte ein neues Kleid,
Das rote wird ihr zu kurz mit der Zeit,
Lieschen braucht ein Jacket schon lange,
Das Mädel wächst wie eine Bohnenstange,
Der Vater bekäm ein Pfeifenrohr
Und ein gemaltes Schild überm Thor:

Christian Kurz, Damenschuhfabrik,
Das klingt so vornehm, nach Reichtum und Glück,
O, wär ich reich, hätt' ich Geld,
Mir gehörte die ganze Welt.

Jakob Wassermann

Jakob Wassermann (1873 – 1934), deutscher Schriftsteller