Abendlied

Weil unsre Augen sie nicht sehn

Abendlied

Der Mond ist aufgegangen
Die goldenen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmerung hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.

Seht ihr den Mond dort stehen ? -
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sacehn,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder,
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgesinnste,
Und suchen viele Künste,
Und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, laß uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglichs trauen,
Nicht Eitelkeit uns freun!
Laß uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sehn!

Wollt endlich sonder Grämen
Uns dieser Welt uns nehmen 
Durch einen Sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Laß uns in Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!

So legt euch denn, Ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon' uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbarn auch!

Matthias Claudius

Matthias Claudius (1740 – 1815), deutscher Dichter, Redakteur, Erzähler und Herausgeber des Wandsbecker Boten, Pseudonym Asmus

Abendgesang auf der Flur

Komm, stiller Abend, nieder,
auf unsre kleine Flur,
dir tönen unsre Lieder,
wie schön bist du Natur!

Schon steigt die Abendröte,
herab in's kühle Tal;
Schon glänzt auf unsrer Flöte,
der Sonne letzter Strahl.

All überall herrscht Schweigen,
nur schwingt der Vögel Chor
noch aus den dunklen Zweigen
den Nachtgesang empor.

Kommst lieber Abend nieder,
auf unsre kleine Flur;
dir tönen unsre Lieder,
wie schön bist du Natur.

Georg Karl Claudius

Text und Melodie: Georg Karl Claudius (1757 – 1815) Privatlehrer, Schriftsteller, Kinderbuchautor, Pseudonym Franz Ehrenberg