Der Schmetterling und die Blumen
Ich möchte wohl wissen, was der Schmetterling den Blumen zu sagen hat!« sprach Alma zu ihrer Schwester Klothilde. »Rastlos schwebt er von einer zur andern, und wo er sich niedergelassen, da ist es, als glänzten der Blumen Sterne noch einmal so hell und so freundlich, und ich muß dann immer denken, er habe ihnen etwas besonders Liebes und Tröstliches vertraut.«
»Laß den Flattergeist seiner Wege ziehn!« entgegnete Klothilde. »Was wird es sein, das er den Blumen verkündet? Nichts, als daß er sie schön findet und nach diesem Geständnis weiter zu ziehen gedenkt. – O solch ein Schmetterling ist gewiß der ärgste Schmeichler, und darum haben ihn die eitlen Blumen so gern!«
»Ei, liebe Klothilde,« entgegnete Alma, »da glaub' ich denn doch etwas viel Besseres von beiden! Hast du nicht eben bemerkt, wie jener Schmetterling dort die welke Lilie umkreiste und sich zu ihr herabließ, als wollte er ihr ein freundliches Abschiedswort sagen? Sieh, er kommt wieder zurück und beugt sich noch einmal zu ihr herab wie ein Engel des Friedens. Gewiß, die Sprache des Schmetterlings ist von viel ernsterer Bedeutung.«
»Nun, so laß doch hören, was du von ihr verstanden?« begann Klothilde, nachdem Alma das Treiben des Schmetterlings mit ernstem Schweigen betrachtet hatte.
»Lächle nur,« entgegnete jene, »aber mir ist, als wäre der Schmetterling darum so innig mit der Blumenwelt vertraut, weil das Los ihrer Vergänglichkeit ihn rührt und er ihren Schmer; versteht. Wäre es nicht möglich, daß er dazu bestimmt wäre, die Stunde ihres Scheidens mit froher Hoffnung zu schmücken? Er durfte ja nur das Geheimnis seines eignen Lebens den Blumen vertrauen, wie er sein erstes Kleid abgelegt hat und wie ihm darauf ein so viel schöneres geworden ist. – Gewiß, die Blumen fühlen auch ihren Tod, und je reizvoller ihr kurzes Dasein war, desto trüber muß jene Vorstellung für sie werden. Denke dir nun, daß der Schmetterling der Herold des künftigen Lenzes ist, daß er in die welken Blumenherzen den Trost des Wiederaufblühens senkt – bekommt der Leichtbeschwingte dann nicht sogleich eine ernstere Gestalt? Ein Lichtbote der Blumen, ein leuchtender Verkünder des Lebens in der großen Werkstatt der Vergänglichkeit, – o laß dem Schmetterling diese Bedeutung! Sie erklärt so schön seine Liebe zu den Blumen und deren Sehnsucht nach ihm!«
Da drückte Klothilde der Schwester Hand, aber sie lächelte nicht, sondern sprach leise zu ihr: »Deine Vorstellung grenzt gewiß näher an die Wahrheit, als die meine, denn sie ergreift das Herz und öffnet es einer heimlichen Freude. Ich werde fortan nie den Schmetterling sehen, ohne an das Wort zu denken, das er zu den sterbenden, welkenden Blumenherzen spricht.«
Agnes Franz (1794 – 1843)
Bildnis: Louise Antoinette Eleonore Konstanze Agnes Fransky (1794 – 1843). Pseudonym: Agnes Franz
aus: „Schwingen des Lebens“ von Agnes Franz. Verlag: Stuttgart / Heilbronn, Walter Seifert.
Ein paar sehr arme Leute hatten viele, viele Kinder
Der undankbare Zwerg
Ein paar sehr arme Leute hatten viele, viele Kinder, welche sie nur mit Mühe ernähren konnten. Einst gingen einige dieser Kinder in den Wald, um Reisig zusammen zu suchen. Eines der Mädchen, mit Namen Schneeweißchen, verlor sich zufällig von den andern und fand mit Erstaunen einen häßlichen Zwerg, der kaum[206] eine Elle lang seyn mochte, in der größten Noth. Er hatte einen Baum, welcher gefällt, spalten wollen und auch wirklich eine tiefe Spalte hinein gehauen, in welche er einen Pflock gethan. Dieser Pflock war, ich weiß nicht wie, wieder heraus gekommen, und indem sich die Spalte schnell schloß, hatte sie ein ziemliches Stück von seinem unermeßlich langen Barte erwischt, und eingeklemmt, so daß der Zwerg gefangen da stand. Er rief das Kind um Hülfe an, und Schneeweißchen war auch gleich bereit ihm zu helfen; aber sie mochte es anfangen wie sie wollte, der Bart war nicht heraus zu bringen. Da erbot sich Schneeweißchen schnell nach Hause zu laufen und ihren Vater zu rufen; das verbot ihr aber der Zwerg, und befahl ihr eine Scheere zu holen, um den Bart abzuschneiden; sie gehorchte und lief fort. Bald kam sie wieder und befreite ihn durch das Abschneiden des gefangenen Stückes vom Barte. Hierauf zog der Zwerg einen großen Sack mit Geld unter dem Baume hervor, und ob es wohl schicklich gewesen, daß er seiner Befreierin höflich gedankt und ihr von seinem vielen Gelde auch reichlich mitgetheilt hätte, so that er doch weder das eine noch das andere, sondern schlich, murrend über seinen Unfall, ohne Gruß noch Dank davon. Schneeweißchen sah ihm nach, dann hüpfte sie wieder fort.[207] Nicht lange nachher ging Schneeweißchen mit ihrer Schwester Rosenrothe an den Fluß, um zu angeln und zu krebsen. Siehe da war der Zwerg wieder, und diesesmahl hatte sich der Faden der Angelruthe in seinem Bart ganz verwickelt. Ein Fisch hatte unten angebissen und zog so mit der Angel das quäckende Zwerglein in das Wasser hinein. Die Mädchen ergriffen das Männchen, um es fest zu halten, aber es war unmöglich Schnur und Bart von einander zu wirren, und der große Fisch, viel größer als der Angler, zog immer fort. Da sprach Schneeweißchen zu ihrer Schwester, sie sollte stehen bleiben und den Zwerg fest halten, indeß wolle sie nach Hause laufen und eine Scheere holen. Wie der Blitz lief sie hin und her und zerschnitt Angelruthe, wobei aber auch ein Theil des Bartes verloren ging. Darüber murrete das Zwerglein sehr, ergriff einen Sack mit den schönsten Perlen und machte sich, wie das erstemal, undankbar und unhöflich davon. Die Kinder aber angelten und krebseten und dachten nicht mehr an das grobe Männlein. Da geschah es abermals, daß die Kinder weggeschickt wurden, um etwas aus der Stadt zu holen. Als die Mädchen über das Feld gingen, erblickten sie einen Adler, welcher das bekannte Zwerglein anpackte und mit sich fortnehmen wollte. Die beiden,[208] Rosenrothe und Schneeweißchen, warfen den Vogel mit Steinen, und da das nichts half, faßten sie das Männchen an und zerreten sich mit dem Adler herum, und keins wollte die Beute lassen. Da schrie der böse Zwerg so jämmerlich, daß der Adler erschrack und ihn im Stiche ließ. Diesesmal hatte er einen Sack mit Edelsteinen bei sich, und er ging wie das erstemal davon, ohne Sang und Klang. Wiederum nach einiger Zeit fanden die beiden Kinder den Zwerg unter den Tatzen eines Bären, der im Begriff stand ihn zu kämmen. Sie schrieen laut auf vor Schrecken, und der Bär stutzte und sah nach ihnen hin. Da bat das Zwerglein: »Ach lieber, gnädiger Herr Bär, friß mich nicht! Ich will dir auch meine Säcke mit Gold, Perlen und Edelgesteinen geben. Sieh! die beiden Kinder da, sind jung und fett und zart, an ihnen wirst du einen bessern Bissen finden, als an mir; nimm und friß sie.« Die Mädchen waren starr vor Schrecken über den undankbaren Bösewicht, der Bär aber kehrte sich an sein Gerede nicht, sondern fraß ihn brummend mit Haut und Haar, und ging dann seiner Wege. Die Mädchen fanden nun die Säcke mit Perlen, Gold und Edelsteinen, welche sie mühsam genug, denn sie waren sehr schwer, den Eltern hinschleppten. Da waren sie nun mit einemmale[209] so reich, wie die reichsten Fürsten, und kauften sich schöne Schlösser und Landgüter, und Schneeweißchen und Rosenrothe, so wie ihre Geschwister, konnten nun recht viel lernen, und bekamen schöne Kleider und Sachen. Das garstige Zwerglein aber bedauerte Niemand, denn es hatte sein Schicksal gar zu wohl verdient.
Karoline Stahl (1776 – 1837), deutsche Schriftstellerin, Pädagogin
Karoline Stahl (1776 – 1837), deutsche Schriftstellerin, Pädagogin
aus „Fabeln, Märchen und Erzählungen für Kinder“ von Karoline Stahl. Nürnberg, 1821. Seite 206 – 210
Der Hase und der Fuchs
(mündlich in Thüringen)
Ein Hase und ein Fuchs reisten beide mit einander. Es war Winterszeit, grünte kein Kraut, und auf dem Felde kroch weder Maus noch Laus. "Das ist ein hungriges Wetter," sprach der Fuchs zum Hasen, "mir schnurren alle Gedärme zusammen." - "Ja wohl" antwortete der Hase. "Es ist überall Dürrhof, Und ich möchte meine eignen Löffel fressen, wenn ich damit ins Maul langen könnte."
So hungrig trabten sie mit einander fort. Da sahen sie von weitem ein Bauernmädchen kommen, das trug einen Handkorb, und aus dem Korb kam dem Fuchs und dem Hasen ein angenehmer Geruch entgegen, der Geruch von frischen Semmeln. "Weißt Du was!" sprach der Fuchs. "Lege Dich hin der Länge lang, und stelle Dich todt. Das Mädchen wird seinen Korb hinstellen und Dich aufheben wollen, um Deinen armen Balg zu gewinnen, denn Hasenbalge geben Handschuhe; derweilen erwische ich den Semmelkorb, uns zum Troste."
Der Hase that nach des Fuchsen Rath, fiel hin und stellte sich todt, und der Fuchs duckte sich hinter eine Windwehe von Schnee. Das Mädchen kam, sah den frischen Hasen, der alle Viere von sich streckte, stellte richtig ihren Korb hin und bückte sich nach dem Hasen. Jetzt wischte der Fuchs hervor, erschnappte den Korb und strich damit querfeldein, gleich war der Hase lebendig und folgte eilend seinem Begleiter. Dieser aber stand gar nicht still, und machte keine Miene, die Semmeln zu theilen, sondern ließ merken, daß er sie allein fressen wollte. Das vermerkte der Hase sehr übel. Als sie nun in die Nähe eines kleinen Weihers kamen, sprach der Hase zum Fuchs: "Wie wäre es, wenn wir uns eine Mahlzeit Fische verschafften? Wir haben dann Fische und Weißbrod, wie die großen Herren! Hänge Deinen Schwanz ein wenig ins Wasser, so werden die Fische, die jetzt auch nicht viel zu beißen haben, sich daran hängen. Eile aber, ehe der Weiher zufriert."
Das leuchtete dem Fuchs ein, er ging hin an den Weiher, der eben zufrieren wollte, und hing seinen Schwanz hinein, und eine kleine Weile, so war der Schwanz des Fuchses fest angefroren. Da nahm der Hase den Semmelkorb, fraß die Semmeln vor des Fuchses Augen ganz gemächlich, eine nach der andern, und sagte zum Fuchs: "Warte nur, bis es aufthaut, warte nur bis ins Frühjahr, warte nur bis es auftaut!" und lief davon, und der Fuchs bellte ihm nach, wie ein böser Hund an der Kette.
Ludwig Bechstein (1801 – 1860), deutscher Schriftsteller, Archivar, Apotheker, Bibliothekar, Märchensammler.
Bildnis: Ludwig Bechstein (1801 – 1860)
aus: „Deutsches Märchenbuch“, herausgegeben von Ludwig Bechstein. Verlag von Georg Wigand, Leipzig , 1847. Seite 127 – 128
Frau Sullivan fürchtete, die Elfen hätten ihr jüngstes Kind gestohlen
Die Brauerei von Eierschalen
Frau Sullivan fürchtete, die Elfen hätten ihr jüngstes Kind gestohlen und ein anderes an seine Stelle gelegt, und gewisse Anzeigen schienen auch den Verdacht zu bestätigen, denn ihr gesundes, blauäugiges Kind war in einer einzigen Nacht zu einem armen Wicht zusammengeschrumpft, der unaufhörlich schrie und heulte. Die arme Frau Sullivan ward dadurch recht unglücklich und alle die Nachbarn, mit denen sie über diese Angelegenheit sprach, sagten, daß ihr eigenes Kind ohne allen Zweifel bei dem stillen Volke sich befände und eins aus diesem dafür hingelegt worden wäre.
Frau Sullivan mußte wohl glauben, was jedermann sagte, aber ein gewaltsames Mittel wollte sie doch nicht anwenden. Obgleich sein Gesicht verwelkt, sein Leib fast zu einem Gerippe abgemagert war, so hatte es doch eine bestimmte Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Kind und sie konnte sich nicht entschließen, es lebendig auf einen glühenden Rost zu legen, oder seine Nase mit einer glühenden Zange zu zwicken, oder es in den Schnee neben den Weg zu legen, ob ihr gleich diese und ähnliche Mittel angelegentlich empfohlen wurden, um ihr Kind wieder zurück zu erhalten.
Eines Tages begegnete Sullivan einer weisen Frau, unter dem Namen der grauen Lene in der Gegend wohl bekannt. Sie hatte die Gabe (wie sie auch immer mochte dazu gelangt sein) zu sagen, wo der Tod umgehe und was für die Ruhe der Seelen gut sei. Sie konnte Warzen und Kröpfe heilen und manches andere Wunder dieser Art vollbringen.
"Ihr seht mir heute so trübselig aus, Frau Sullivan", waren die ersten Worte der grauen Lene.
"Das geht natürlich zu, Lene", antwortete Frau Sullivan, "mein eigenes liebes Kind ist mir ohne weiteres aus der Wiege geholt worden und ein häßliches, winziges, eingeschrumpftes Ding von den Elfen an seine Stelle gelegt; kein Wunder, daß Ihr mich voll Sorgen seht."
"Das macht Euch keine Schande, Frau Sullivan", sagte Lene, "aber seid Ihr auch gewiß, daß es die Elfen getan haben?"
"Freilich!" erwiderte Frau Sullivan, "Gewiß genug zu meinem Leidwesen; und darf ich meinen beiden Augen nicht trauen? Jedes Mutterherz müßte es an meiner Stelle fühlen."
"Wollt Ihr den Rat einer alten Frau annehmen?" sagte die graue Lene, indem sie die unglückliche Mutter mit einem seltsamen, geheimnisreichen Blick anschaute und nach einigem Stillschweigen hinzufügte: "Doch Ihr werdet ihn vielleicht töricht nennen."
"Kann ich mein Kind zurückerhalten, mein eigenes liebes Kind, Lene?" fragte Frau Sullivan mit großer Bewegung.
"Wenn Ihr tut, wie ich Euch sage", antwortete Frau Lene, "so werdet Ihrs erfahren." Frau Sullivan schwieg voll Erwartung und die Alte fuhr fort: "Setzt einen Kessel mit Wasser über das Feuer und laßt es sieden, dann holt ein Dutzend frisch gelegter Eier, schlagt sie auf und nehmt die Schalen; das übrige schüttet weg. Wenn das getan ist, so werft die Schalen in den Kessel mit dem siedenden Wasser und dann werdet Ihr bald erfahren, ob es euer eigen Kind ist, oder ein Elfe. Findet Ihr aber, daß es ein Wechselbalg ist, so nehmt die glühende Feuerzange und stoßt sie ihm in seinen garstigen Rachen und er soll Euch weiter keinen Verdruß machen, dafür stehe ich Euch."
Frau Sullivan ging heim und folgte dem Rat der grauen Lene. Sie setzte den Kessel über das Feuer, legte Torf genug unter und brachte das Wasser in ein gewaltiges Sieden und Sprudeln.
Das Kind lag zum Erstaunen still und ruhig in der Wiege, doch jetzt, bei dem Anblick des großen Feuers und des Kessels mit Wasser darüber, riß es die Augen auf, die wie Sterne in einer Winternacht funkelten. Es sah mit großer Aufmerksamkeit zu, als Frau Sullivan die Eier aufschlug und die Schalen in das siedende Wasser warf. Endlich fragte es, und es klang wie die Stimme eines alten Mannes: "Was macht Ihr da, Mutter?"
Der Frau war, wie sie selbst sagte, zu Mut, als ob ihr der Atem genommen würde, wie sie das Kind sprechen hörte. Doch sie beschäftigte sich nur damit, das Eisen in die Glut zu legen und antwortete, ohne ein Erstaunen über die Worte zu zeigen: "Ich braue, mein Sohn."
"Und was braut Ihr, Mutter?" fragte der Balg, dessen unnatürliche Gabe zu sprechen außer allen Zweifel gesetzt hatte, daß er von den Elfen abstammte.
"Wäre nur das Eisen schon glühend!" dachte Frau Sullivan; aber das erforderte einige Zeit und sie entschloß sich, ihn im Gespräch aufzuhalten, bis das Eisen geschickt wäre, durch seine Kehle zu fahren. Sie wiederholte deshalb die Frage: "Du willst wissen, was ich braue, mein Söhnchen?"
"Ja, Mutter", sagte er, "was braut Ihr?"
"Eierschalen, mein Söhnchen."
"Ach", schrie das Teufelchen laut auf, richtete sich in der Wiege in die Höhe und schlug die Hände zusammen: "Ich bin fünfzehn hundert Jahre auf der Welt und habe niemals gesehen, daß man Eierschalen braut!"
Indessen war das Eisen glühend geworden. Die Frau ergriff es und eilte damit nach der Wiege, aber wie es nun geschah, sie glitt mit dem Fuß aus, fiel auf den Boden und das Eisen fuhr aus ihrer Hand in die andere Ecke des Hauses. Sie raffte sich jedoch geschwind auf und lief zu der Wiege in der Absicht, den verwünschten Balg, der darin lag, in das siedende Wasser zu werfen. Doch was erblickte sie darin? Ihr eigenes Kind in süßem Schlafe, eins seiner weichen, runden Ärmchen auf das Kopfkissen gelegt, und seine Züge waren so mild, als wenn es niemals in seiner Ruhe wäre gestört worden, bloß der rote Mund ward von einem reinen und sanften Atem bewegt.
Wer kann beschreiben, was eine Mutter fühlt, die auf ihr schlafendes Kind blickt! Und diese hier erhielt eben den lang verlornen Knaben wieder. Du kannst denken, daß ihr stillschweigends die Tränen über die Wangen liefen und sie sich keine Mühe gab, sie zurückzuhalten, denn sie weinte vor Freude.
Anmerkungen:
In Grose's Provincial Glossary wird dasselbe Märchen mit einigen unwesentlichen Abweichungen erzählt. Die Stelle nämlich der grauen Lene nimmt ein alter Mann ein, und die Mutter des Wechselbalgs, anstatt die Eierschalen zu brauen, bricht ein Dutzend Eier entzwei und stellt die vier und zwanzig halbe Schalen vor das Kind hin, welches ausruft: "Sieben Jahre war ich alt, eh ich zur Amme kam und vier Jahre habe ich seitdem gelebt und doch habe ich niemals so viel Milchpfannen gesehen!" Das übrige stimmt überein. Auch in W. Scotts Minstrelsy of the scottish Border II. 173.
Ein deutsches Märchen, an sich offenbar dasselbe (Hausmärchen 39, III), hat den feinen Zug voraus, daß die Mutter ihr rechtes Kind zurückerhält, so wie es ihr gelingt, den Wechselbalg zum Lachen zu bringen. Die Mutter schlägt ein Ei entzwei und in den beiden Schalen setzt sie Wasser ans Feuer, damit es koche, da ruft der Wechselbalg aus: "Ich bin so alt, wie der Westerwald und habe nicht gesehen, daß jemand in Schalen kocht!" lacht und in dem Augenblick wird das rechte Kind zurückgebracht. - Auch in Dänemark wird es erzählt. S. Thiele I. 47.
Die graue Lene (Ellen Leah oder genauer geschrieben: Liath, d. h. Helene mit dem grauen Haar) ist eine wirklich lebende, nach der Natur gezeichnete Person und folgendes verdient noch von ihr erzählt zu werden, weil es Denkungsart und Sitten des Landes schildert.
Man glaubte, die graue Lene stände in Verbindung mit Geistern und hätte Verkehr mit dem stillen Volke. Man wußte, daß sie niemals zu Haus schlief. Sie sagte den Tod jedes Menschen voraus, wenn sie ihn auch nicht persönlich kannte, sie vermochte jede Bewegung derselben in der andern Welt zu beschreiben und wußte ihre Bedürfnisse, welche sie den Freunden des Verstorbenen mitteilte, welche dadurch in den Stand gesetzt wurden, jenen Bedürfnissen abzuhelfen. Eine Frau hatte zwei Söhne in Ostindien und da sie lange Zeit nichts von ihnen hörte, nahm sie ihre Zuflucht zu der grauen Lene, die sie auch sogleich, ohne das geringste Zaudern, benachrichtigte, daß ihre beiden Söhne tot wären und daß sie in vierzehn Tagen einen Brief mit der Nachricht empfangen würde. So seltsam es scheinen mag, der Erfolg bestätigte ihre Aussage.
Johanna Sullivan, eine junge Frau, hatte lange Zeit mit ihrem Schwager, der ein Unrecht gegen sie begangen, in schlechtem Vernehmen gestanden. Als er auf dem Todbette lag, sendete er nach ihr, um Vergebung von ihr zu erhalten, doch sie schlug es ab, hinzugehen und er starb, ohne sie zu sehen. Die Folge war, daß sie nicht mehr allein ausgehen konnte, ohne durch eine gespensterhafte Erscheinung gequält zu werden, die so sehr an ihr nagte, daß die beständige Verwirrung ihrer Seele nach und nach ihre Gesundheit untergrub. In dieser bedauerungswürdigen Lage suchte sie bei der grauen Lene Hilfe, welche ihr sagte, sie solle den Geist anreden und ihrem Schwager aufrichtig vergeben, so lange bis sie das täte, würde der Geist nicht aufhören, sie zu quälen; die graue Lene nannte ihr noch genau die Stelle, wo er wieder erscheinen würde.
Sie entschloß sich also, all ihren Mut zusammenzunehmen und den Geist zu befragen; doch wenn sie ihn erblickte, so verließ sie die Kraft völlig: das Blut in den Adern erstarrte und mit einem heftigen Schrei fiel sie sinnlos zur Erde. In diesem Zustand wurde die arme Frau gefunden und heimgetragen; als sie wieder zu sich selbst kam, schickte man nach der grauen Lene, die bei ihrem Anblick über diesen Mangel an Mut sehr bestürzt war und sie aufs ernstlichste ermahnte, nicht wieder eine solche Schwachheit zu zeigen. Der Geist würde ihr ohne Zweifel abermals erscheinen und es, wofern sie ihre Verzeihung nicht erklärte, für sie beide die traurigsten Folgen haben.
Der Geist zeigte sich nochmals, aber Johanna Sullivan war, wie das vorigemal, ihrer Sinne nicht mächtig und ohne ein Wort hervorbringen zu können, fiel sie ohnmächtig nieder. Sie verletzte sich bei diesem Falle an verschiedenen Orten.
Die graue Lene war bald hernach bei ihr, mit furchtbaren Verzerrungen des Gesichts und den Zeichen des größten Jammers verkündigte sie ihr, daß die arme Seele ihres Schwagers jetzt unwiderruflich zu endlosen Qualen verurteilt sei und in wenigen Stunden ihr eigenes Leben endigen werde. Johanna Sullivan starb den folgenden Morgen.
Thomas Crofton Croker (1798 – 1854), irischer Alterstumforscher, Märchensammler
Übertragung ins deutsche von Friedrich Fleischer. Veröffenlicht von den Brüder Grimm: „Irische Elfenmärchen“, Leipzig 1826
Original: „Fairy Legends and Tradtions of The South of Irland“ (Märchenlegenden und Traditionen Südirland) von Thomas Crofton Makler. (Thomas Crofton Croker). Illustrationen von ? . Verlag: John Murray, Albemarle Street, 1834. Page 31- 32
Erstveröffentlichung von „Fairy Legends and Traditions of the South of Ireland“, London, 1825
The Brewery of Egg-Shells
It may be considered impertinent were I to explain what is meant by a changeling: both Shakspeare and Spenser have already done so and who is there unacquainted with the Midsummer Night's Dream and the Fairy Queen.
Now Mrs. Sullivan fancied that her youngest child had been changed by "fairies theft," to use Spenser's words, and certainly appearances warranted such a conclusion; for in one night her healthy, blue-eyeed boy had become shrivelled up into almost nothing, and never ceased squalling and crying. This naturally made poor Mrs. Sullivan very unhappy; and all the neighbours, by way of comforting her, said, that her own child was, beyond any kind of doubt, with the good people, and that one of themselves had been put in his place.
Mrs. Sullivan of course could not disbelieve what every one told her, but she did not wish to hurt the thing; for although its face was so withered, and its body wasted away to a mere skeleton, it had still a strong resemblance to her own boy: she therefore could not find it in her heart to roast it alive on the griddle, or to burn its nose off with the red hot tongs, or to throw it out in the snow on the road side, notwithstanding these, and several like proceedings, were strongly recommended to her for the recovery of her child.
One day who should Mrs. Sullivan meet but a cunning woman, well known about the country by the name of Ellen Leah (or Grey Ellen). She had the gift, however she got it, of telling where the dead were, and what was good for the rest of their souls; and could charm away warts and wens, and do a great many wonderful things of the same nature.
"You're in grief this morning, Mrs. Sullivan," were the first words of Ellen Leah to her.
"You may say that, Ellen," said Mrs. Sullivan, and good cause I have to be in grief, for there was my own fine child whipped off from me out of his cradle, without as much as by your leave, or ask your pardon, and an ugly dony bit of a shrivelled up fairy put in his place; no wonder then that you see me in grief, Ellen."
"Small blame to you, Mrs. Sullivan," said Ellen Leah; "but are you sure 't is a fairy?"
"Sure !" echoed Mrs. Sullivan, " sure enough am I to my sorrow, and can I doubt my own two eyes? Every mother's soul must feel for me!"
"Will you take an old woman's advice ?" said Ellen Leah, fixing her wild and mysterious gaze upon the unhappy mother; and, after a pause, she added, "but may be you'll call it foolish? "
"Can you get me back my child, - my own child, Ellen?" said Mrs. Sullivan with great energy.
"If you do as I bid you," returned Ellen Leah, "you'll know." Mrs. Sullivan was silent in expectation, and Ellen continued, " Put down the big pot, full of water, on the fire, and make it boil like mad; then get a dozen new laid eggs, break them, and keep the shells, but throw away the rest; when that is done, put the shells in the pot of boiling water, and you will soon know whether it is your own boy or a fairy. If you find that it is a fairy in the cradle, take the red hot poker and cram it down his ugly throat, and you will not have much trouble with him after that, I promise you."
Home went Mrs. Sullivan, and did as Ellen Leah desired. She put the pot on the fire, and plenty of turf under it, and set the water boiling at such a rate, that if ever water was red hot-it surely was.
The child was lying for a wonder quite easy and quiet in the cradle, every now and then cocking his eye, that would twinkle as keen as a star in a frosty night, over at the great fire, and the big pot upon it; and he looked on with great attention at Mrs. Sullivan breaking the eggs, and putting down the egg-shells to boil. At last he asked, with the voice of a very old man, " What are you doing, mammy?"
Mrs.. Sullivan's heart, as she said herself, was up in her mouth ready to choke her, at hearing the child speak. But she contrived to put the poker in the fire, and to answer without making any wonder at the words, "I'm brewing, a vick," (my son.)
"And what are you brewing, mammy?" said the little imp, whose supernatural gift of speech now proved beyond question that he was a fairy substitute.
"I wish the poker was red," thought Mrs. Sullivan; but it was a large one, and took a long time heating: so she determined to keep him in talk until the poker was in a proper state to thrust down his throat, and therefore repeated the question.
"Is it what I'm brewing, a vick," said she, you want to know?"
"Yes, mammy: what are you brewing ?" returned the fairy.
"Egg-shells, a vick," said Mrs. Sullivan.
"Oh!" shrieked the imp, starting up in the cradle, and clapping his hands together, " I'm fifteen hundred years in the world, and I never saw a brewery of egg-shells before!" The poker was by this time quite red, and Mrs. Sullivan seizing it, ran furiously towards the cradle; but somehow or other her foot slipped, and she fell flat on the floor, and the poker flew out of her hand to the other end of the house. However, she got up, without much loss of time, and went to the cradle intending to pitch the wicked thing that was in it into the pot of boiling water, when there she saw her own child in a sweet sleep, one of his soft round arms rested upon the pillow his features were as placid as if their repose had never been disturbed, save the rosy mouth which moved with a gentle and regular breathing.
Who can tell the feelings of a mother when she looks upon her sleeping child? Why should I, therefore, endeavour to describe those of Mrs. Sullivan at again beholding her long lost boy? The fountain of her heart overflowed with the excess of joy - and she wept! - tears trickled silently down her cheeks, no? did she strive to check them - they were tears not of sorrow, but of happiness.
Thomas Crofton Croker (1798 – 1854), irischer Alterstumforscher, Märchensammler
aus: „Fairy Legends and Tradtions of The South of Irland“ (Märchenlegenden und Traditionen Südirland) von Thomas Crofton Makler. (Thomas Crofton Croker). Illustrationen von ? . Verlag: John Murray, Albemarle Street, 1834. Page 31- 32
Erstveröffentlichung von „Fairy Legends and Traditions of the South of Ireland“, London, 1825
„Sammlung irischer Märchen“, Übertragung ins Deutsche von Friedrich Fleischer. Veröffentlicht von den Brüder Grimm , Erstveröffentlichung 1826.
Zauberflöte
Eine reiche Welt=Parabel
Tönt die mächtige Romanze
Dir, verklärt vom Märchenglanze,
Menschenlebens Wunderfabel.
Tröstend schallt die Zauberflöte
Durch des Unglücks Flammenröte:
höchster Weisheit heil'gen Hallen,
Ernster Liebe siegreich Wallen,
Die Beherrscherin der Nacht,
Wie das Paar, das neckt und lacht -
Es find ewige Lebens=Chiffern.
Melodien ist's gelungen,
Von der Kunst Magie durchdrungen,
Tiefe Rätsel zu entziffern.
Ernst von Feuchtersleben
Ernst Maria Johann Karl Freiherr von Feuchtersleben (1806 – 1849), österreichischer Dichter, Essayist, Arzt, Psychiater, Philossoph
Bildnis: Ernst von Feuchtersleben (1806 – 1849
aus: Gedichte“ von Ernst von Feuchtersleben. Verlag: Stuttgart und Tübingen in der Coatta’schen Buchhandlung, 1836. Seite 142
die Liebe, hatten ſie
ihren viehiſchen Luͤſten aufopfern wollen
Ausschnitt aus dem Märchen 'Krauskopf und Goldlöckchen'
Das Goͤtterkind! die Liebe, hatten ſie
ihren viehiſchen Luͤſten aufopfern wollen.
Darum war es nun auf ewig von ihnen
gewichen und hatte ſie der zerſtoͤrenden
Selbſtſucht uͤberlaſſen. Ein allgemeines
Wohl gab es nicht mehr, jeder ſuchte nur das
Seinige zu befoͤrdern.
Karoline Auguste Fischer
Caroline Auguste Christiani, geborene Venturini (1764 – 1942), deutsche Schriftstellerin, Dichterin, Frauenrechtlerin, Hofmusikerin. Pseudonym: Caroline Auguste Fischr
Karoline Auguste Fischer (1764 – 1942)
Journal der Romane. Zehntes Stück, Berlin, 1802, In Ungers Journal „Mährchen“ von Caroline Auguste Fischer. Verlag: Berlin, Unger, 1802. Krauskopf und Goldlöckchen. Seite 77
alle ‚Märchen‘ von Caroline Auguste Fischer zu lesen auf ‚deutsches Textarchiv‘
Dein Vater hat ein Ringelein
Mit einem grünen Edelstein,
Der hat gar einen schönen Schein,
Laß mich nur einmal sehn hinein,
So werd ich gleich durch Mark und Bein
Froh wie ein Lämmerschwänzchen sein,
Dann soll das Kunstfigürchen fein
Zu dir in's Gärtchen gleich hinein;
Es bleibt mit allen Kleidern fein,
O lieb Consteßchen! immer dein,
Damit die Gackeleia klein
Nicht so allein, allein, allein!
Clemens von Bretano
Clemens Wenzeslaus Bretano (1778 – 1842), deutscher Schriftsteller
Bildnis: Clemens von Bretano (1778 – 1842
aus: „Gockel, Hinkel und Gackeleia: Märchen“ von Clemens Brentano. Seite 111 – 112
Märchen
Er war einmal ein Kaiser, der über ein unermeßlich großes, reiches und schönes Land herrschte. Und er besaß wie jeder andere Kaiser auch eine Schatzkammer, in der inmitten all der glänzenden und glitzernden Juwelen auch eine Flöte lag. Das war aber ein merkwürdiges Instrument. Wenn man nämlich durch eins der vier Löcher in die Flöte hineinsah - loh! was gab es da alles zu sehen! Da war eine Landschaft darin, klein, aber voll Leben: Eine Thomasche Landschaft mit Böcklinschen Wolken und Leistikowaschen Seen. Rezniceksche Dämchen rümpften die Nasen über Zillesche Gestalten, und eine Bauerndirne Meuniers trug einen Arm voll Blumen Orliks - kurz, die ganze moderne Richtung war in der Flöte.
Und was macht der Kaiser damit? Er pfiff drauf.
anonym
Ulk, 22.11.1907, Nr. 47,
wieder in: Mit 5 PS
Kurt Tucholsky
Kurt Tucholsky (1890 – 1935) deutscher Schriftstellerin, Journalist, Lyriker, Kabarettautor, Satiriker, Romanautor. Jurist, Liedtexter, Literatur-, Film-, Musikkritiker. Texter für Bühnenstücke
Foto: Kurt Tucholsky (1890 – 1935)
Es war Kurt Tucholsky einer seiner erste journalistisch Arbeit.
‚Märchen‘ wurde am 22. November 1907 in der deutschen Satire-Zeitschrift ‚Ulk‘, 36. Jahrgang, Nummer 47, Seite 5
Die Satirezeitschrift ‚Ulk‘ erschien von 1872 bis 1933 als Gratisbeilage des Berliner Tageblatts. Von September 1910 bis November 1930 war ‚Ulk‘ auch der ‚Berliner Volks-Zeitung‘ beigelegt.
Kurt Tucholsky wollte mit den Kriegswitzen und dem Durchhaltehumor Schluss machen und den Ruf des jüdisch-demokratischen ‚Ulk‘ wiederherstellen.