Die Gelegenheit

Er zog die Stiefel an

Die Gelegenheit

Vordem kam die Gelegenheit,
Ehr und Reichtum zu erlangen,
zu einem Mann aufs Land gegangen.
„Hans“, rief sie, „komm, geh mit!“
Hans sprach: „Um welche Zeit?“
„Gleich, gleich den Augenblick.“
„So hurtig und wohin?“
„Komm mit, du wirst’s schon sehn.“
„Je nun, so warte doch
zum wenigsten so lange noch
mit der mir zugedachten Gabe,
bis ich mir, weil ich barfuß bin,
die Stiefel angezogen habe.“
Der Bauer dachte nicht, daß die Gelegenheit
in einer oft noch kürzern Zeit
sich einem aus den Händen schwinge,
und oft gar schnell verlorenginge.
Er zog die Stiefel an und rief nach seinem Weibe,
das noch im Bette lag. „Hör“, sprach er,
„lieber Schatz,
räum alle Kasten aus und mach indessen Platz,
damit ich, wenn ich ja bis mittags außenbliebe,
bei meiner Wiederkunft als ein beglückter Mann,
das mitgebrachte Geld darin versperren kann.“
Er lief und öffnete sein Haus im Verlangen;
doch als er vor der Türe kam,
war die Gelegenheit, zu seinem großen Gram,
schon weg und wieder fortgegangen.
Er lief, jedoch umsonst, sein Weib kam auch herbei
und unterstützte sein Geschrei.
Sie liefen hinters Haus, durchsuchten Stall und Scheune,
besahen auch sogar die Herberge der Schweine,
ob die Gelegenheit sich etwa hier versteckt;
jedoch mit aller Mühe ward nirgends nichts entdeckt. –
Der Bauer setzte sich vor seiner Türe nieder
und schwor hinkünftig hurtiger zu sein.
Allein was half ihm dies? Sein Hoffen traf nicht ein,
denn die Gelegenheit kam niemals wieder.

Daniel Stoppe

Daniel Stoppe (1697 – 1747) deutscher Schullehrer, schlesischer Dichter

Gedicht aus: Neue Fabeln oder moralische Gedichte: der Jugend zu einem nützlichen Zeitvertreib; Breßlau, Verlger und Druck Johann Jacob Korn, 1740, Zweiter Teil

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Stadt

Zehntausend starre Blöcke sind im Tal errichtet

Stadt

Zehntausend starre Blöcke sind im Tal errichtert aus: Stein auf Stein um Holz- und Eisenroste hochgeschichtet; und Block an Block zu einem Berg gedrückt, von Dampfrohr, Turm und Bahn gedrückt, von Draht, der Netze an Netze spinnt. Der Berg, von vielen Furchen tief durchwühlt: Das ist das große Labyrinth, dadruch das Schicksal Mensch an Mensch spricht.

Fünfhunderttausend rollt im Kreis das große Reiben durch alle rinnen fort und fort ein ungeheuerem Streben: In Kaufhaus, Werkstatt, Saal und Bahnhofshalle, in Schule, Park, am Promenadenwalle, im Fahrstuhlschacht, im Bau am Krahn, Treppauf und ab, durch Straßen über Plätze, auf Wagen, Rad und Straßenbahn, da schäumt des Menschenstrudel wirre Hitze.

Fünfhunderttausend Menschen rollt das große Leben durch alle Rinnen fort und fort in ungeheuren Streben. Und karrt der Tod aus Hundert täglich fort, es braust der Lärm wirr sonst an jedem Ort. Schleppt er vom Hammer-Block den Schmied, schleppt er vom Kurven-Gleis des Wagenleiters: Noch stärker brüllt das Straßenlied: Der Wagen fährt – der Hammer drohnt weiter.

Geritt Engelke

Geritt Engelke (1890 – 1918), deutscher Dichter und Schriftsteller.

An die Tulpe

Du erfreust , sie sagt’s, die Augen

An die Tulpe

Andre mögen andre loben,
mir behagt dein reich Gewand;
durch fein eigen Lied erhoben
pflückt dich eines Dichters Hand.
In des Regenbogens sieben
Farben warst du eingeweiht,
und wir sehen was wir lieben
an dir zu derselben Zeit.

Als mit ihrem Zauberstabe Flora dich entstehen ließ, einte sie des Duftes Bließ; doch die Blumen all‘, die frohen, standen nun voll Kummer da, als die Erde deinen hohen Doppelzauber werden sah.

Göttin! O zerstör‘ uns wieder, denn wer blickt uns nur noch an? Sprach die Rose, sprach der Flieder, sprach der niedre thymian. Flora kam, um auszusaugen deinen Blättern ihren Duft: Du erfreust, sie sagt’s, die Augen. Sie erfreun die trunkne Luft.

August von Platen-Halbermunde

August von Platen-Habermünde(1796 – 1835), deutscher Dichter

Olympiahymne

Zu dem ‚Wettbewerb für Olympische Spiele 1935‘ reichte Joachim Ringelnatz unter den Namen Erwin Christian Stolze folgendes ein

Die Olympiahymne

Jauchzen steigt die Olympiade,
Olympiade unser Zeit!
Alles wartet der Parade.
Chöre harren klangbreit.

In Begeisterung sich heben
Muß beim Anmarsch solcher Macht
Rechts und links das Volk – es beben
Ihre Herzen weiterwacht.

Nur mit Geist kann Leib gedeihen.
Geist erstarkt an Mut und Kraft.
Einen beide sich, dann weihen
Leben sie, das Leben schafft.

Nicht der Zorn soll Muskeln schwellen,
Aber jugendheißes Spiel.
Tretet an, ihr Kampfgesellen!
Zieht mit Gott zum edlen Ziel!

Joachim Ringelnatz

Hans Bötticher (1883 – 1934), deutscher Dichter, Schriftsteller, Maler. Pinko Meyer, Fritz Dörry und Gustav Hester, Gustav Dörrig, Fritz Bötticher

Es ist ein memoriam an Joachim Ringelnatz.

Verlag: Ernst Rowohlt Verlag Berlin 1936. Mit 1 Portät und 20 Tafeln. 196 Seiten. Herausgegeben von Hans Siemensen und Muschelkalk Ringelnatz (Leonarda Gescher).

Landregen

Der Regen rauscht schon seit Tagen immerzu

Landregen

Der Regen rauscht.
Der Regen rauscht schon seit Tagen immerzu

Und Käferchen ertrinken
im Schlammrinn an den Wegen.- –
Der Wald hat Ruh,
gelabte Blätter blinken.

Im Regenrauschen schweigen
alle Vögel und zeigen
sich nicht.

Es rauscht und ewige Musik.

und dennoch sucht mein Blick
ein Streifchen helles Licht.
Fast schäm‘ ich mich, zu sagen:
Ich sehne mich nach etwas Staub.

Ich kann das schwere, kalte Laub
nicht länger mehr ertragen.

Joachim Ringelnatz

Hans Bötticher (1883 – 1934), deutscher Dichter, Schriftsteller, Maler. Pinko Meyer, Fritz Dörry und Gustav Hester, Gustav Dörrig, Fritz Bötticher

aus: „Gedichte, Gedichte von Einsmals und Heute“ Verlag: Ernst Rowohlt,, Berlin, 1934.

Der Gedichtsband enthält 101 Gedichte. Davon sind 38 Gedichte Erstveröffentlichungen.

Der Band erschien 1934 nach seinem Tod.

Im Glück

Und ich des Weges wandre unbekümmert

Im Glück

Gelassen reicht der tage goldnes Maß. Mir still das Schicksal dar mit gütigen Händen.

Beglückter schäß‘ ich, was ich längst besaß. Und tiefer bang ich: Möcht‘ es nie sich werden!

Wer weiß, der Friede noch mich rings umwaltet. Und ich des Weges wandre unbekümmert.

Im welcher Wolkentiefe sich gestaltet. Der Wetterstrahl, der meine Welt zertrümmert.

Anna Klie

Gedicht über Liebe und Glück von Anna Klie (1885 -1913), deutsche Kinder- Jugendbuchautorin, Schriftstellerin, Dichterin, Lyrikerin

aus ‚Gedichte‘ 1895, im Verlag Georg Wigand, Leipzig

Eine Blume

Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit

Eine Blume

Eine Blume, die sich erschließt, macht keinen Lärm.
Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit, das wahre Glück und das echte Heldentum.
Unbemerkt kommt alles, was Dauer haben wird in dieser wechselnden, lärmvollen Welt voll falschen Heldentums,
falschem Glücks und unechter Schönheit.

Wilhelm Raabe

Wilhelm Karl Raabe (1831 – 1910), deutscher Schriftsteller, Erzähler. Pseudonym: Jakob Corvinus

Es sang eine Nachtigall

weil sie dasselbe Jauchsen sang

Am Sachsenplatz: Es sang die Nachtigall

Es sang eine Nacht …
Ja, eine Nachtigall am Sachsenplatz.
Heute morgen,- Hast du in Berlin
das je gehört? – Sie sang, so schien
es mir, für mich, für Ringelnatz.

Und gab mir doch Verlegenheit,
weil sie dasselbe Jauchsen sang,
das allen Dichtern früherer Zeit
durchs Herz in ihre Verse klang.
In schöne Verse!

Nachtigalle
besuche bitte ab und zu
den Sachsenplatz:
dort wohne ich. – Ich weiß, dass du
nicht Verse suchst von Ringelnatz.

Und hatten doch die Schwärme recht,
die dich besange, gut und schlecht.

Joachim Ringelnatz

Hans Bötticher (1883 – 1934), deutscher Dichter, Schriftsteller, Maler. Pinko Meyer, Fritz Dörry und Gustav Hester, Gustav Dörrig, Fritz Bötticher

Sommernacht

Mit ausgespannten Armen kommt leis die Nacht

Sommernacht

Mit ausgespannten Armen kommt leis‘ die Nacht. Drückt Feld und Wald und Fluren ans Herze sacht. Schläge ihren weichen Mantel um Strauch und Baum, und summt mit Glockentönen die Welt in Traum. Vergessen hat die Erde des Tages Weh, ich hebe meine Augen hinauf zu Höh‘. Ein Vöglein seh‘ ich tauchen ins Abensgold, ach, wenn’s auch meine Seele mitnehmen wollt‘!

Johanna Ambrosius

Johanna Ambrosius (1834 – 1939), deutsche Volks-, Heimat- und Naturdichterin

Blick und Gedanken

denn alles mir gilt

Blick und und Gedanken

Blick und Gedanken zu dir gekehrt, hab ich mit Schranken vielfach umwehrt, daß nicht die heißen lodern dir zu, jäh nicht zerreißen hüllen der Ruh.

Höher dein Friede denn alles mir gilt einzig im Liebe Sehnsucht entquillt; und dich zu missen, wohl ist es Pein, ließ ich’s dich wissen, liebt ich nicht rein.

Also mein Wesen ging in den Tod, von dir zu lösen Krankheit und Not; dürft ich dich sehen kräftig und frei, still wollt‘ ich gehen und lächeln dabei.

Luise Deusch

Klara Luise Wilhelmine Deusch (1871 – 1925) deutsche Schriftstellerin und Dichterin

kurze Biografie