Licht

Licht

Licht! O, wo ist das Licht? Entzünd es am brennenden Feuer der Sehnsucht! Da ist die Lampe, doch weh, kein Flackern der Flamme - ist das dein Schicksal mein Herz!
Dann wäre dir besser bei weitem der Tod.
Elend klopft an die Tür, seine Botschaft kündet: dein Herr ist wachsam, er ruft durch das Dunkel der Nacht dich zum Stelldichein.
Der Himmel verhängen Wolken; der Regen ist endlos. Ich weiß nicht, was in mir sich regt, weiß nicht seinen Sinn.
Ein Blitzstrahl zieht tieferes Dunkel mir übers Aug, und mein Herz tastet den Pfad, auf den die Stimmen der Nacht mich rufen.
Licht! O, wo ist das Licht? Entzünd es am brennenden Feuer der Sehnsucht. Es donnert, der Wind stürzt kreischend durchs Leere. Die Nacht ist schwarz, schwarz wie ein Stein. Laß nicht die Stunden vergehen im Dunkeln. Zünde die Lampe der Liebe mit deinem Leben.

Rabindranath Tagore

Rabindranath Tagare ( 1861 – 1841), bengalischer Dichter, Philosoph, Musiker, Komponist, Dramatiker, Universalgelehrter, Anhänger der hinduistischen Reformbewegung Brahmo Sanaj

Das Kind

… dem ein fürstlich Kleid man anzog

Das Kind

Das Kind, dem
ein fürstlich Kleid
man anzog,
und das Juwelen
um seinen Nacken trägt,
verliert alle Freude an seinem Spiel,
behindert vom Kleid
bei jedem Schritt.

Aus Furcht, es könnte zerreißen,
vom Staube befleckt sein,
hält es sich fern
von der Welt und fürchtet
beinah sich zu regen.

Mutter, es ist kein Gewinn
im Zwang deines Putzen,
wenn er uns ausschließt
vom heilsamen Staube der Erde,
wenn er des Rechts uns beraubt,
hinzutreten zum großen Markt
des gemeinen menschlichen Lebens.

Rabindranath Tagare 

Rabindranath Tagare ( 1861 – 1841), bengalischer Dichter, Philosoph, Musiker, Komponist, Dramatiker, Universalgelehrter, Anhänger der hinduistischen Reformbewegung Brahmo Sanaj

Herbstlied 1

Hohler Ton, Violenton, Bang im Herbste,

Herbst

Hohler Ton,
Violenton,
Bang im Herbste,
Stöhnte mit ein-
Töniger Pein
Lang im Herzen.

Ganz verstummt,
Wenn Turm summt.
Stunden schlagen,
Bleich und wach
Wein ich nach
Früheren Tagen.

Und ich geh
Im Wehn und Weh
Hingetrieben,
Da, dort,
Wo verdorrt
Blätter stieben.

Paul Verlaine

Paul Verlaine (1844 – 1896) französischer Lyriker, Dichter, Schriftsteller

Herbstlied 2

Der Herbst durchzieht, das Sehnsuchtslied

Herbst

Den Herbst durchzieht
das Sehnsuchtslied.
Der Geiger
Und zwingt mein Herz
In langem Schmerz
Zu zweigen.

Bleich und voll Leid,
Das die letzte Zeit
Erscheine,
Gedenk‘ ich zurück An fernes Glück,
Und ich weine.

Und so muss ich gehn.
Im Herbstenwehn.
Und Wetter, Bald hier, bald dort,
Verweht und verdorrt
Wie Blätter.

Paul Verlaine

Paul Verlaine (1844 – 1896) französischer Lyriker, Dichter, Schriftsteller

aus ‚ Chanson d’automne‘

‚Ausgewählte Gedichte‘ , übertragen von Graf Wolf von Kalckreuth, Verlag Pöschel & Trepte, 1906. Original im Lemerre-Verlag Paris 1866

Die Drossel

Kleine Drossel aus den Kindertagen

Die Drossel

Kleine Drossel aus den Kindertagen,
ist‘ derselbe Wald noch, der dich trägt?
Bist du’s selbst, die mir mit ihrer Klagen
immer noch das alte Herz bewegt?

Ach, wie vieles sahen wir sich wandeln,
unsere ersten Verse, auch wie fern …
unser frühes Leiden, unser Handeln,
alles ist schon wie ein fremder Stern.

Nur durch deine Lieder schlingt sich leise
jene stille Kette, die nicht bricht,
eingeschlossen ruhst du in dem Kreise,
früber Gott den Abendsegen spricht.

Und wir selbst, in ewigen Verändern,
Lauschen fromm dir wie zur Kinderzeit,
ach, verweil‘ an unser Abendrändern,
kleine Zeugin du der Ewigkeit.

Ernst Wiechert

Ernst Wiechert (1887 – 1950) deutscher Schriftsteller, Lehrer

Gedicht aus: ‚Die letzten Lieder‘, Verlag Arche, Zürich. 1951

Was ist Gras?

Ein Kind sagte: Was ist Gras?

Was ist Gras?

Ein Kind sagte: Was ist Gras? Und es brachte mir mit vollen Händen, wie konnte ich dem Kinde Antwort geben? Ich weiß es ebenso wenig. Ich meine, es müßte die Fahne meines Herzen sein, ganz aus einem hoffnungsreinem Stoff gewoben oder ich meine, es ist der liebende Gottes Taschentuch.

Walt Whitman

Walt Whitman (1819 – 1892) US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter, Schriftsetzer, Lehrer, Essayist

Vers aus: Walt Whitman, Grashalme, Eugen Dietrichs Verlag, Leipzig, 1904

‚Leaves of Grass‘, Walt Whitman, Thayer and Eldrige, Boston, Years 85 of the States (1860 – 61). Erstdruck erschien anonym im Selbstverlag, Brooklyn, New York, 1855

Niemals war mehr Anfang

als jetzt, nie mehr Jugend und Alter als jetzt

Niemals war mehr Anfang

Niemals war mehr Anfang, als jetzt, nie mehr Jugend und Alter als jetzt, nie mehr war mehr Vollkommenheit als jetzt, nie mehr Himmel und Hölle als jetzt,

Trieb und Trieb und Trieb, stets der zugehende Trieb der Welt.

Walt Whitman

Walt Whitman (1819 – 1892) US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter, Schriftsetzer, Lehrer, Essayist

Ich hörte, was

von Anfang und Ende

Ich hörte, was

Ich hörte, was die Schwätzer schwatzen, Geschwätz von Anfang und Ende. Ich aber, schwatze nicht von Anfang oder Ende.

Walt Whitman

Walt Whitman (1819 – 1892) US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter, Schriftsetzer, Lehrer, Essayist

Die schönen Wunder

Die schönen Wunder aus den sieben Reichen

Die schönen Wunder

Die schönen Wunder aus den sieben Reichen,
die bald Zitronenfalter,
groß an Stielen, bald Zwergflamiges,
die in Büschen fielen
bald Muscheln sind aus zauberstillen Teichen.

O meine Rosen. Herzen.
Mögt ihr bleiben, erschaffen,
erschöpft vom weißen Sonnenspielen
verzehrt vom Überschang, dass Allzuvielen;
tragt singend euch zu Grabe, süßer Leichen!

Ich will euch doch vom lieben Zweig, nicht trennen
euch nicht im engen, lauen Glase weinen,
die kurze Spanne Blühn euch kunstreich dehnen.

O gut: an unermeßnem Glanz verbrennen,
statt, von der heißen Erde fortgerissen,
ein langes schales Leben hinzusehnen.

Gertrud Kolmar

Gertrud Kolmar (1894 – 1943, ermordet in Ausschwitz) deutsche Lyrikerin, Schriftstellerin.

aus: ‚Die Gedichte‘, Ihr Vater züchtete in seinem Garten Rosen. Über diese Rosen schrieb sie viele Gedichte

Dicke, gelbe Butterblumen

Der Rasen blinkt, die Götter glänzen

Dicke, gelbe Butterblumen!
Der Rasen blinkt, die Götter glänzen.

Eine nackte Venus untersucht ihr Knie, ein steinerner Hercules schlägt die
Leyer.

Die Wasser stürzen, die Wolken eilen,
die Welt voll Sonne

Frühling!

In meinem Herzen
träumt das Bild eines kleinen Mädchens
mit geöffneten Lippen und lachenden Augen.

Arnold Holz

Arno Holz (1863 – 1929) Deutscher Dichter, Journalist, Dramatiker, Schriftsteller

aus ‚Phantasus‘

Phantasus ist ein Lyrikzyklus.

‚Phantasus‘ gilt als sein Hauptwerk. Erstveröffentlichung 1898. Danach schrieb er noch bis zu seinem Tode 1929 daran. Einige Male veröffentlicht, die Seiten wurden immer mehr.