Wiegenlied

Leise kommt die stille Nacht

Wiegenlied

Schlaf, mein holder Knabe du,
alles neigt sich schon zur Ruh,
Tages Lärm ist längst verstummt,
nur die Abendglocke summt,
stille Nacht bringt sanfte Ruh,
holder Knabe, schlaf auch du!

Holder Knabe, träume süss,
von dem Himmelsparadies,
wo dein kleines Schwesterlein
schwebet in der Engel Reih’n,
tanzt und spielt und singt so süss,
träume, Kind vom Paradies.

Leise kommt die stille Nacht!
Schlafe bis der Tag erwacht,
bis der helle Sonnenschein
dringt in unser Kämmerlein
und die Welt auf’s Neu dir lacht,
schlaf mein Knabe, gute Nacht!

Anna Klie

Anna Klie (1885 -1913), deutsche Kinder- Jugendbuchautorin, Schriftstellerin, Dichterin, Lyrikerin

Im Walde

Wie ist es schön, so immerfort

Im Walde

Wie ist es schön, so immerfort
tief in den Wald hinein zu wandern,
und spricht auch Keins von uns ein Wort,
als dächt es kaum der Näh des andern!

O schweigen wir! mir ist’s genug
an deiner Seite hin zu gehn,
um schwebt bei jedem Athemzug
uns doch tief innerstes Verstehen.

Anna Klie

Anna Klie (1885 -1913), deutsche Kinder- Jugendbuchautorin, Schriftstellerin, Dichterin, Lyrikerin

Morgengruss

Morgengruß.


Guten Morgen, schöne Müllerin!
Wo steckst du gleich das Köpfchen hin,
Als wär' dir was geschehen?
Verdrießt dich denn mein Gruß so schwer?

Verstört dich denn mein Blick so sehr?

So muß ich wieder gehen.


 O laß mich nur von ferne stehn,

Nach deinem lieben Fenster sehn,
Von ferne, ganz von ferne!

Du blondes Köpfchen, komm hervor!
Hervor aus eurem runden Thor,
Ihr blauen Morgensterne!

Ihr schlummertrunknen Äugelein,
Ihr thaubetrübten Blümelein,

Was scheuet ihr die Sonne?
Hat es die Nacht so gut gemeint,
Daß ihr euch schließt und bückt und weint
Nach ihrer stillen Wonne?

Nun schüttelt ab der Träume Flor,
Und hebt euch frisch und frei empor

In Gottes hellen Morgen!
Die Lerche wirbelt in der Luft,
Und aus dem tiefen Herzen ruft
Die Liebe Leid und Sorgen. 

Wilhelm Müller

Text: Wilhelm Müller (1794 – 1827)

Vertonung: Franz Schubert (1797 – 1828), österreichischer Komponist

Furchtlos

Sein Atem war Muschelrauschen in Stille

Fruchtlos

Die Frauen des Westens tragen den Schleier nicht.
Die Frauen des Ostens legen ihn ab.
Ich möchte mein Antlitz mit dunklem Schleier verhüllen;
Denn es ist nicht schön mehr zu schauen, nicht lieblich
mehr, denn es ist graulich und rissig wie Steine
morschen, erkalteten Herdes.
Mein Haar stäubt Asche.
So will ich warten allein in Dämmerung auf schmaler,
hochlehniger Bank,
So will ich sitzen, da zögernd Nacht um mich sinkt,
Ein schwarzer Schleier.
Ich ziehe ihn um mich und bedecke mein Gesicht.
Doch meine Augen starren . . .

Ich sehe. Ich fühle :
Durch die verschlossene Tür tritt lautlos ein Kind.
Das einzige, das mir zubestimmt und das ich nicht geboren.
Nicht geboren um meiner Sünde willen; Gott ist gerecht.
Und ich schweige, und murre nicht, ich trage und berge
das Haupt, und so darf ich es suchen
Manchen Abend.
Ein Knabe.
Nur dieser eine : zart, stumm und flehend, mit weichen
düsteren Locken,
Unter braunlicher Stirn die fremden graugrünen Meeraugen
dessen, den ich geliebt, den ich immer liebe.
Er fürchtet mich nicht, bebt nicht zurück vor dem Schmeicheln
der welken Lippen und Hände.
Er naht, und sein blauer Sammet rührt meinen Arm, und
seine spielenden kleinen Finger greifen nach meiner Seele
Und tun ihr weh.
Zuweilen bringt er mir seine Murmel, die finstere, golden
geäderte, Tigerauge genannt,
Oder auch eine Blume, blasse Narzisse,
Oder auch eine Muschel, rötlich mit Warzen; er hebt sie
sacht an mein Ohr, und ich höre dem Rauschen zu.
Einst
Um die Hälfte der Nacht, der Winternacht,
Erwacht ich und schaute durch Schatten:
Der mich liebte, ruhte auf meinem Lager und schlief.
Sein Atem war Muschelrauschen in Stille.
Ich lauschte.
Und er schlummerte tief, so geborgen in meiner Liebe
Unter Träumen: sie falteten über ihm Flügel, purpurn wie
Saft des besamten Granatapfels, den wir geteilt.
Friede.
Und ich war glüklich und hob mich und saß, innig betend,
Und neigte wieder das Angesicht und hielt es mit Händen
und stammelte Dank um Dank.
Aus meinem Blut
Knospete eine Rose ...
Das war die Keimnacht,
Die Segen wollte, Nacht der ungeflüsterten Bitte, doch ich
empfing dich nicht.
Sieh deine Mutter weinen ...
Auch du wirst sterben.
Morgen werde ich einen Spaten nehmen, unter die
Schneebeersträucher gehen und dich begraben.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin

Die Tage

Nur einer kam

Die Tage

Die Tage suchen einsam ihre Stühle
Und sitzen nieder ohne Blick noch Wort.
Der Abend weht. Sie schauern in der Kühle,
Verhüllen sich, stehn auf und schreiten fort.

Doch mancher war, der nicht gelassen blieb,
Der lachend, weinend durch die Stunden tollte,
Mich unbedacht in Gram und Jauchzen trieb
Und zuckend festhielt, als er wandern sollte.

Nur einer kam – im Kleid wie Gras und Sand –
Er trällerte ein rotes Liebeslied,
Nahm, da es Zeit war, lächelnd meine Hand
Und legt’ ein kleines Licht hinein und schied.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin

um ca. 1915 geschrieben

Engel im Walde

Mit weichem Fuß. er hatte ewig Zeit

Engel im Walde

Ich aber traf ihn nachmittags im Wald.
Ein Wunder, das durch Buchenräume ging,
So menschenfern, so steigend die Gestalt,
Dass blaue Luft im Fittich sich verfing;

Das Antlitz schien ein reines, stilles Leid,
Sehr sanft und silbrig rieselte das Haar,
In großen Falten schritt das weiße Kleid.
Er schaffte nichts, er sagte nichts; er war.

Und nichts an ihm, was schreckte, was verbot,
Und dennoch: keines Sterbens Weg genoss,
Daß meine Lippe, ob auch unbedroht,
Erstaunten Ruf, die Frage stumm verschloss.

Ein Blatt entwehte an sein Gürtelband,
Vergilbt und schon ein wenig kraus gerollt;
Er fing und trug es in der schmalen Hand
Wie ein Geschenk aus Bronze und aus Gold.

Wer sah ihm zu? Das Eichhorn, rot am Ast,
Und Rehe, die das Buschwerk schnell verlor.
Und Erlen wanden schon im Abendglast
Wie schwarze Schlangen züngelnd sich empor.

Er regte kaum die dünne Blätterschicht
Mit weichem Fuß. Er hatte ewig Zeit
Und zog: wohin? In Stadt und Dörfer nicht;
Er wallte außer aller Wirklichkeit.

Nicht unsre Not, nicht unser armes Glück,
Nur keusche Ruhe barg sein Schwingenpaar
Ich folgte nach und stand und blieb zurück.
Er brachte nichts, er sagte nichts: er war.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin

Die Biene

Flughauch läßt klingen

Die Biene

Die kleine Seele
Zarter Symbole
Taucht in das Füllhorn
Früher Gladiole,
Schöpft weiße Schaummilch,
Brockt gelbe Bretzel,
Folgt eines Windes
Freundlichem Rätsel.

Flughauch läßt klingen
Goldtropfenblumen;
Da sie noch schwingen,
Löst sie die Krumen.
Winziger Engel,
Summende Flocke,
Rührt sie den Schwengel
Glitzernder Glocke.

Des Kindes Auge,
Das Gott zerbrochen,
Eh' es zu Rosen
Leuchtend gesprochen,
Schwebt aus den Lidern,
Die sich ihm sperrten,
Hängt braun und samten
An Sonnengärten.

Gertrud KOlmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin

Milch

Die großen Wolken fahren droben,
Ein Traumgebirg der Karawanken,
Mit wehend aufgerißnen Flanken,
Mit Gipfeln, wülstig und zerstoben.

Die großen Sphinxe lagern oben
Mit schlagend schwarzen Fluggedanken,
Die zottigen, bekrallten Pranken
Dem Abgrundsrande hingeschoben.

Und drunten weint in dumpfer Stunde
Das Kind, die Erde, zuckt und wittert
Nach ihrer Brüste dunklen Inseln.

Sie spalten auf; ein Tropfen splittert
Und knospt auf seinem durst'gen Munde
Und blättert ab in weißem Rinnsein.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin

Ihr Vater züchtete Rosen. Daher hat sie viele Gedichte über Rosen geschrieben. Dieses Gedicht ist der Rose ‚Frau Karl Druschki – Schneekönigin Lambert, 1901‘ gewidmet.

Traumsee

Traumsee

O Stille. O dies Schweigen, dies: Ich blühe.
Wie Seide. Blies dich rosenroter Wind
Aus Hirtenengels Flöte um sein Rind,
Die milchig weißen goldgehörnten Kühe ?

Dein Antlitz badet Tau der Schöpfungsfrühe;
Aus ihren Armen strahlst du, wie ein Kind
Mit Augen, die voll kleiner Falter sind,
So schwebend lächelt unsrer Macht und Müh«

Du lauschst. Der Vögel glitzernd Tirili
Springt nur für dich aus seiner güldnen Dose,
Du Morgenwolkenspiegel. Melodie

Vom Wangenschein gereifter Aprikose.
Du Schimmer. Traumsee einem Kolibri.
Du Duft. Du Niezunennendes. Du: Rose.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin

Ihr Vater züchtete Rosen. Daher hat sie viele Gedichte über Rosen geschrieben.

Liebe

Ja, neige, neige dich, du Rosenrot,
Du kleine Ampel, Alabasterstern!
Dir will ich dienen, meinem Ruhm und Herrn,
Dir Opfer bieten, Wein und süßes Brot.

O nimm mich ein. Ich führe, sanftes Boot,
Mit deinem Wind in tiefen Abend gern;
Er wiegt dich sacht, und du bist doch schon fern
Und gleitest scheinend nieder in den Tod.

So ohne Flackern schwindest du, o Licht,
So sinkst du, Nachen, ohne Hilfeschrei.
Ich hör' dein Schweigen: hör' den Jammer nicht,

Ich seh' dich an: die Erde rollt vorbei.
Du bist gestorben, Sommertagsgesicht;
Ich lebe, daß ich trauern mag: verzeih.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin