Ich freue jeden Tag

Ich freue mich durch des Jahres

Ich freue mich jeden Tag

Ich freue mich jeden Tag dem Abend mich entgegen,
Und jede Nacht im Traum mich auf den Morgensegen.

Ich freue still mich mit unungestürmter Lust,
Nicht ungeduldig ist die Freud' in meiner Brust.

Ich freu' mich auf die Stund' und auf den Augenblick,
Auf groß und kleines, mein und anderer Geschick.

Vom Herbst den Winter durch freu' ich dem Lenz mich zu,
Und aus dem Sommer durch den Herbst zur Winterruh.

Ich freu' mich durch des Jahres und durch des Lebens Zeit,
Und aus der Zeit hinaus mich in die Ewigkeit.

Friedrich Rückert

Der Schmetterling

Er schwingt sich auf, ihn trägt die Luft

Der Schmetterling

Ein Jugendbild

Ein Räuplein saß auf kleinem Blatt,
Es saß nicht hoch, doch aß es satt
Und war auch wohl geborgen;
Da ward das kleine Raupending
Zum Schmetterling,
An einem schönen Morgen
Zum bunten Schmetterling.

Der Schmetterling blickt um sich her,
Es wogt um ihn ein goldnes Meer
Von Farben und von Düften;
Er regt entzückt die Flügelein:
Muß bei euch sein,
Ihr Blumen auf den Triften,
Muß ewig bei euch sein!

Er schwingt sich auf, ihn trägt die Luft
So leicht empor, er schwelgt in Duft,
O Freude, Freude, Freude!
Da saust ein scharfer Wind vorbei,
Reißt ihm entzwei
Die Flügel alle beide.
Der Wind reißt sie entzwei.

Er taumelt, ach! so matt, so matt,
Zurück nun auf das kleine Blatt,
Das ihn ernährt als Raupe.
O weh, o weh, du armes Ding!
Ein Schmetterling,
Der nährt sich nicht vom Laube –
Du armer Schmetterling!

Ihm ist das Blatt jetzt eine Gruft,
Ihn letzt nur Blumensaft und Duft,
Die kann er nicht erlangen,
Und eh’ noch kommt das Abendrot,
Sieht man ihn tot
An seinem Blättlein hangen,
Ach kalt, erstarrt und tot!

Friedrich Hebbel

Christian Friedrich Hebbel (1813 – 1863), deutscher Dichter, Dramatiker

Ballade des äußeren Lebens

Und immer weht der Wind

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
und fallen nachts wie tote Vögel nieder
und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
vernehmen wir und reden viele Worte
und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
und drohende, und totenhaft verdorrte...

Wozu sind diese aufgebaut? Und gleichen
einander nie? Und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
die wir doch groß und ewig einsam sind
und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

Was frommt's, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der „Abend“ sagt,
ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
wie schwerer Honig aus den hohlen Waben

Hugo von Hofmannsthal

Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal (1874 – 1929) österreichischer Schriftsteller, Dichter, Librettist, Essayist, Erzähler, Dramatiker

Frühlingswind

Er flog mit Schweigen

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

Er hat sich gewiegt,
Wo Weinen war,
Und hat sich geschmiegt
In zerrüttetes Haar.

Er schüttelte nieder
Akazienblüten
Und kühlte die Glieder,
Die atmend glühten.

Lippen im Lachen
Hat er berührt,
Die weichen und wachen
Fluren durchspürt.

Er glitt durch die Flöte,
Als schluchzender Schrei,
An dämmernder Röte
Flog er vorbei.

Er flog mit Schweigen
Durch flüsternde Zimmer
Und löschte im Neigen
Der Ampel Schimmer.

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

Durch die glatten
Kahlen Alleen
Treibt sein Wehn
Blasse Schatten

Und den Duft,
Den er gebracht,
Von wo er gekommen
Seit gestern Nacht.

Hugo von Hofmannsthal

Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal (1874 – 1929) österreichischer Schriftsteller, Dichter, Librettist, Essayist, Erzähler, Dramatiker

Rosenzeit

Ich mag lachen und singen

Rosenzeit.


Nun stehn die Rosen in Blüte,
Da spinnt die Lieb' ihr Netz so fein.
Mein flatterhaft Gemüthe,
Dich fängt sie nimmer ein.

Und blieb' ich träumend hangen
In dieser jungen Rosenwangen,
Meine Jugend thäte mir leid.

Ich mag nur lachen und singen,
Durch blühende Wälder schweift mein Lauf;
Mein Herz will sich erschwingen
Bis in die Wipfel hinauf!

Und blieb’ ich träumend hangen
In dieser jungen Rosenzeit
An schönsten Rosenwangen,
Meine Jugend thäte mir leid.

Paul Heyse

Paul Johann Ludwig Heyse (1830 – 1914) deutscher Schriftsteller, Übersetzer, Dramatiker

Blumengruß

Bringt Blüten mir und junges Maiengrün

Blumengruß

Bringt Veilchen mir, daß ich den Frühling schaue,
So lang des Maies zarte Kinder blühn -
Wie sind sie schöne im jungen Morgenthaue!
Bringt Veilchen mir, daß ich den Frühling schaue,
Bringt Blüten mir und junges Maiengrün!

Bringt Rosen mir, des Lenzes Haupt zu krönen,
Die Sanduhr rinnt, die Blüten sinken hin!
Bald wird des Sommers Scheidegruß ertönen!
Bringt Rosen mir, des Lenzes Haupt zu krönen,
Bringt Blumen mir, so lang die Blumen blühn!

Agnes Franz

Louise Antoinette Eleonore Konstanze Agnes Fransky (1794 – 1843)

Herbst

Wo verdorrt, Blätter stieben

Herbst

Hohler Ton,
Violenton,
Bang im Herbste,
Stöhnte mit ein-
Töniger Pein
Lang im Herzen.

Ganz verstummt,
Wenn Turm summt.
Stunden schlagen,
Bleich und wach
Wein ich nach
Früheren Tagen.

Und ich geh
Im Wehn und Weh
Hingetrieben,
Da, dort,
Wo verdorrt
Blätter stieben.

Paul Verlaine

Chanson d’automne

Les sanglots longs
des violons
de l’automne
blessent mon cœur
d’une langueur
monotone.

Tout suffocant
et blême, quand
sonne l’heure,
je me souviens
des jours anciens
et je pleure.

Et je m’en vais
au vent mauvais
qui m’emporte
deçà, delà,
pareil à la
feuille morte.

Paul Verlaine

Paul Verlaine (1844 – 1896) französischer Lyriker, Dichter, Schriftsteller

aus ‚ Chanson d’automne‘

‚Ausgewählte Gedichte‘ , übertragen von Graf Wolf von Kalckreuth, Verlag Pöschel & Trepte, 1906. Original im Lemerre-Verlag Paris 1866

Elfenlied

Ein kleines Elfchen im Walde schlief

Elfenlied

Bei Nacht im Dorf der Wächter rief:
Elfe!
Ein ganz kleines Elfchen im Walde schlief -
Wohl um die Elfe! -
Und meint, es rief ihm aus dem Thal
Bei seinem Namen die Nachtigall,
Oder Silpelit hätt' ihm gerufen.
Reibt sich der sein Schneckenhaus,
Und ist als wie ein trunken Mann,
Sein Schläflein war nict voll gethan,
Und humpelt also tipp tapp
Durch's Haselholz in's Thal hinab,
Schlupft an der Mauer hin so dicht,
Da sitz der Glühwurm, Licht an Licht.
"Was sind das helle Fensterlein?
Da drin wird eine Hochzeit sein:
Die kleinen sitzen bei'm Mahle,
Und treiben's in dem Saale.
Da guck ich wohl ein wenig 'nein!"
- Pfui, stößt den Kopf an harten Stein!
Elfe, gelt, du hast genug?

Gukuk! Gukuk!

Eduard Mörike

Eduard Friedrich Mörike (1804 – 1875) deutscher Lyriker, Autor von Prosatexten, Pfarrer

aus: ‚Gedichte‘ 1867. Eduard Mörike. Verlag der JG Cotta’schen Buchhandlung. Seite 84 – 85

Abendlied

Weil unsre Augen sie nicht sehn

Abendlied

Der Mond ist aufgegangen
Die goldenen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmerung hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.

Seht ihr den Mond dort stehen ? -
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sacehn,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder,
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgesinnste,
Und suchen viele Künste,
Und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, laß uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglichs trauen,
Nicht Eitelkeit uns freun!
Laß uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sehn!

Wollt endlich sonder Grämen
Uns dieser Welt uns nehmen 
Durch einen Sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Laß uns in Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!

So legt euch denn, Ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon' uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbarn auch!

Matthias Claudius

Matthias Claudius (1740 – 1815), deutscher Dichter, Redakteur, Erzähler und Herausgeber des Wandsbecker Boten, Pseudonym Asmus

Der Rabe

Doch ein Knabe kommt des Wegs daher

Der Rabe

Ein armes Nest im alten Baum.
Wo die Winde ziehen am Heidesaum,
Wo die Wolken fliegen so pfeilgeschwind:
Da haust der Rabe mit Weib und Kind.
Und düster brütet im kahlen Land
der herbstliche Abendsonnenbrand.
 

Da piepst auf einmal das Rabenkind:
Sag' Vater, woher all' die Würmer sind,
Die du mir zum Geschenk gemacht - ?
Hat sie der liebe Gott gebracht?
Hast du sie gekauft beim Krämersmann?
Hast du sie gefunden im wilden Tann?
»Mein liebes Kind, sie sind gestohlen,
Deine Mutter hat sie als schmackhaft empfohlen.«

Der Rabe spricht: Diebstahl ist Pflicht,

Das siebente Gebot versteh ich nicht.
 

Ein altes Weib in verzweifeltem Mut
Wohl an dem morschen Baumstamm ruht,
Sie weiß nicht, wie sie den Hunger stillt,
Ihr Herz vor Elend und Jammer schwillt.
Da sieht sie plötzlich im Niedersinken
Ein Äpfelchen aus dem Grase blinken.
 

Doch ein Knabe kommt des Wegs daher,
Der thut gar wichtig und spreizt sich sehr,
Und als er das alte Weiblein erblickt,
Wie sie den Apfel hält, stumm und beglückt,
Springt er herzu, entreißt ihr die Frucht
Und ergreift mit der leichten Beute die Flucht.

Der Rabe spricht: Diebstahl ist Pflicht,

Das siebente Gebot versteh ich nicht.
 

Und wie der Morgen kämpft mit der Nacht
Und die Nebel ziehen mit schwerer Macht,
Da stößt aus dem Dunkel ein Geier hervor,
Der trägt das Rabenkind hoch empor
Und fliegt mit ihm weit in den Äther hinan
Zum stillen Fraß auf stiller Bahn.

Der Rabe spricht: Das ist gemein,

Wie niedrig, solch ein Dieb zu sein!

Jakob Wassermann

Jakob Wassermann (1873 – 1934), deutscher Schriftsteller