Blickfeuer

Du kennst der Küste rege Leuchtturm-Feuer

 Blickfeuer

I.

Du kennst der Küste rege Leuchtturm-Feuer,
die schlaflos ewig wache Wimpern heben,
als seien es des Schicksals Augen selber,
die ruhlos auf der Dinge Wandel rollen, -

Und stehst vielleicht so selber vor den Dingen,
sie immer wieder gross und fragend messend,
indes des Weltmeers ewig gleiche Woge
zu deinen Füssen ihre Rätsel brandet ...


II.

Und dann sind noch andre Feuer,
die mit unbewegter treuer Güte
durch das Dunkel schauen,
wie wohl Augen stiller Frauen
flehn: aus schwankenden Bezirken
komm, im Heimischen zu wirken.

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern (1871 – 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer

Vogelschau

Ein riesenhafter Erdkloss kreist

 Vogelschau

Begriffst du schon ein Wunder wie dies eine,
dass die Erde um die Sonne fliegt?
0 Nacht, vor deinem Sternenscheine
liegt all mein Menschliches besiegt ...

Ein riesenhafter Erdkloss kreist
unaufhörlich um ein grosses Feuer:
Da gebiert die Scholle Geist -:
der Mensch wird, Zwerg und Ungeheuer, -

Und ruft, Ausschlag der Bodenrinde,
Erd und Himmel tönend an -
und spielt sein Spiel in Weib und Mann ..
gleich einem ewigen Kinde ...

Ja, Kinder-Spiel ist, was da ist,
das sagt dir jede stille Nacht,
und nur dein tiefes Kind-Sein macht,
dass du noch weiter fröhlich bist.

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern (1871 – 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer

Schwalben

Schwalben, durch den Abend treibend

Schwalben

Schwalben, durch den Abend treibend,
leise rufend, hin und wieder,
kurze rasche Bogen schreibend,
goldne Schimmer im Gefieder -.

Oh, wie möcht' ich dir sie zeigen,
diese sonnenroten Rücken!
Und der götterleichte Reigen
müsste dich wie mich entzücken.

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern (1871 – 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer

Marguerite

Du standst vor einem Blumenglas am Fenster

 Marguerite

Du standst vor einem Blumenglas am Fenster
und legtest deine Hand
mit einer schönen
unendlich gütigen Bewegung
um eine Marguerite,
ihr von unten her
den Blätterkreis mit der
gekrümmten Hand
verengend
und sie mit einem Seufzer -
mir wenigstens erschien es so -
und voller Liebe anblickend,
dass ich empfand,
dass zwischen dir und jener Blume sich
Geheimnis stiller Zwiesprache
verberge. -
Und wie ich heute selbst
das gleiche Spiel,
mein selber lächelnd, treibe
und ,mit Schmerzen' ende, -
lächle ich nicht mehr -
und denke jenes Abends an dem Fenster
und jener traurig-gütigen Geberde.

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern (1871 – 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer

Von den heimlichen Rosen

Oh, wer um alle Rosen wüsste

Von den heimlichen Rosen

Oh, wer um alle Rosen wüsste,
die rings in stillen Gärten stehn -
oh, wer um alle wüsste, müsste
wie im rausch durchs Leben gehn.

Du brichst hinein mir rauen Sinnen,
als wie ein Wind in einen Wald -
und wie ein Duft wehst du von hinnen,
dir selbst verwandelte Gestalt.

Oh, wer um alle Rosen wüsste,
die rings in stillen Gärten stehn -
wie im Rausch durchs Liebleln gehn.

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern (1871 – 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer

Wie sollte man wohl leben

wenn man nicht forwährend bei sich

Wie sollte man wohl leben, wenn man nicht fortwährend bei sich wie bei andern hundertelei Krumm gerade sein ließe.

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern (1871 – 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer

Sie kommen noch immer

durch den aufgebrochenen Himmel

They are still coming
through the broken sky,
their peaceful wings spread out
and their heavenly music
hovers over the whole weary world.


Sie kommen noch immer
durch den aufgebrochenen Himmel,
die friedlichen Schwingen ausgebreitet,
und ihre himmlische Musik
schwebt über der ganzen müden Welt.

William Shakespeare

William Shakespeare (1564 – 1616), englischer Dichter, Dramatiker, Schauspieler

In jener Nacht, wo keine Sterne blinken

Der Becher kreist

In jener Nacht, wo keine Sterne blinken,
Wo keines Auswegs Hoffnungsstrahlen winken.
Schrickt nicht zurück, wenn deine Reihe kommt!
Der Becher kreist, und jeder muß ihn trinken

Omar Chayyām

Omar Chayyām (1048 – 1131), persischer Dichter, Astrologe, Astronom, Mathematiker, Philosoph, Kalenderreformer

Horsch, was die Rosenhecke flüstert

Wie lieblich blüh‘ ich auf im Morgenblau

Horsch, was die Rosenhecke flüstert: -Schau
Wie lieblich blüh‘ ich auf im Morgenblau!
Leer meine Borse aus und überschütte
Mit lauterm Gold dem Garten wie mit Tau!

Omar Chayyām

Omar Chayyām (1048 – 1131), persischer Dichter, Astrologe, Astronom, Mathematiker, Philosoph, Kalenderreformer

Denk, all‘ Dein Hoffen

Der Freude Garten böte DIr so viel

Denk, all‘ Dein Hoffen fände auch ein Ziel,
Der Freude Garten böte Dir so viel,
Daß du in seinem Grün, dich selig dünkst-
Doch wenn der Morgen, graut, ist aus das Spiel!

Omar Chayyām

Omar Chayyām (1048 – 1131), persischer Dichter, Astrologe, Astronom, Mathematiker, Philosoph, Kalenderreformer