Die gefangne Lerche

Schöne, goldne Frühlingszeit

Die gefangne Lerche

"Herzeleid, ach, Herzeleid!
Schöne, goldne Frühlingszeit!
Ach, gefangen, eingeschlossen,
Schau' ich durch die engen Sprossen!
Über mir
Steigt mein Schwesterlein und singet,
Daß es durch die Wolken klinget!
Ich allein
Traure hier in bittrer Pein!
Herzeleid, ach, Herzeleid!
Schöne, goldne Frühlingszeit!

Hannchen stand am Vogelbauer,
hört der armen Lerche Trauer;
Öffnet schnell das kleine Haus -
Jubelnd flog die Lerch' hinaus.
"Seligkeit, o Seligkeit!
Sang sie, und stieg immer weiter
Bis in goldnem Wolkentor,
Hannchen ihre Spur verlor.

Agnes Franz

Louise Antoinette Eleonore Konstanze Agnes Fransky (1792 – 1843), deutsche Dichterin, Kinder- und Jugendbuchautorin, Schriftstellerin

Frühlings-Himmel

Ein ganze Schürze voll Himmelblau

Frühlings-Himmel

"Mutter! Öffne Dein Kämmerlein!
Laß schnell das kleine Julchen herein!
Sie bringt Dir etwas von der Au',
Eine ganze Schürze voll Himmelblau!"

Da macht die kranke Mutter auf,
Das Kind sprang herein im raschen Lauf,
Öffnet das Schürzchen - aber - o Leid!
Dahin ist die ganze Herrlichkeit!.

"Ach, Mutter!" ruft sie, "was ist geschehn!
Kein Fleckchen Blau ist zu sehn!
Den Frühlingshimmel wolt' ich Dir bringen,
Und hab' ihn verschüttet beim raschen Springen!"

"Nein, " sprach die Mutter: "Ich hab' ihn entdeckt:
Er hat sich in Deine Augen versteckt!
Dort will ich ihn täglich schimmern sehen,
Bis wir zusammen in's Freie gehen!"

Drauf küßte die Mutter des Kindes Mund,
Und lachte fröhlich und wurde gesund.

Agnes Franz

Louise Antoinette Eleonore Konstanze Agnes Fransky (1792 – 1843), deutsche Dichterin, Kinder- und Jugendbuchautorin, Schriftstellerin

An Tieck

Verstoßen in ein fremdes Land

An Tieck

Ein Kind voll Wehmut und voll Treue,
Verstoßen in ein fremdes Land,
Ließ gern das Glänzende und Neue,
Und blieb dem Alten zugewandt.

Nach langem Suchen, langem Warten,
Nach manchem mühevollen Gang,
Fand es in einem öden Garten
Auf einer längst verfallnen Bank

Ein altes Buch mit Gold verschlossen,
Und nie gehörte Worte drin;
Und, wie des Frühlings zarte Sprossen,
So wuchs in ihm ein innrer Sinn.

Und wie es sitzt, und liest, und schauet
In den Kristall der neuen Welt,
An Gras und Sternen sich erbauet,
Und dankbar auf die Kniee fällt:

So hebt sich sacht aus Gras und Kräutern
Bedächtiglich ein alter Mann,
Im schlichten Rock, und kommt mit heiterm
Gesicht ans fromme Kind heran.

Bekannt doch heimlich sind die Züge,
So kindlich und so wunderbar;
Es spielt die Frühlingsluft der Wiege
Gar seltsam mit dem Silberhaar.

Das Kind faßt bebend seine Hände,
Es ist des Buches hoher Geist,
Der ihm der sauern Wallfahrt Ende
Und seines Vaters Wohnung weist.

Du kniest auf meinem öden Grabe,
So öffnet sich der heilge Mund,
Du bist der Erbe meiner Habe,
Dir werde Gottes Tiefe kund.

Auf jenem Berg als armer Knabe
Hab ich ein himmlisch Buch gesehn,
Und konnte nun durch diese Gabe
In alle Kreaturen sehn.

Es sind an mir durch Gottes Gnade
Der höchsten Wunder viel geschehn;
Des neuen Bunds geheime Lade
Sahn meine Augen offen stehn.

Ich habe treulich aufgeschrieben,
Was innre Lust mir offenbart,
Und bin verkannt und arm geblieben,
Bis ich zu Gott gerufen ward.

Die Zeit ist da, und nicht verborgen
Soll das Mysterium mehr sein.
In diesem Buche bricht der Morgen
Gewaltig in die Zeit hinein.

Verkündiger der Morgenröte,
Des Friedens Bote sollst du sein.
Sanft wie die Luft in Harf und Flöte
Hauch ich dir meinen Atem ein.

Gott sei mit dir, geh hin und wasche
Die Augen dir mit Morgentau.
Sei treu dem Buch und meiner Asche,
Und bade dich im ewgen Blau.

Du wirst das letzte Reich verkünden,
Was tausend Jahre soll bestehn;
Wirst überschwenglich Wesen finden,
Und Jakob Böhmen wiedersehn.

Novalis (an Tieck, um 1800)

Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (1772 – 1801), deutscher Schriftsteller, Philosooph

Weissagung

An der Eiche Sprössling gelehnt, von hellen Düften umhüllt

Weissagung 1773

An der Eiche Sprössling gelehnt, von hellen
Düften umhüllt, stand die Telyn, und schnell
Erscholl sie von selbst; doch ich liess
Unerweckt sie mir erschallen.

Da entströmt' ihr rascher Verdruss, da zürnte
Wirbelnd ihr Ton! Eilend ging ich, und nahm
Die drohende, dass sie dereinst
Zum Vergelt nicht mir verstumte.

Aus des Rosses Auge, des Hufs Erhebung,
Stampfen des Hufs, Schnauben, Wiehern und Sprung
Weissagten die Barden; auch mir
Ist der Blick hell in die Zukunft.

Obs auf immer laste? Dein Joch, o Deutschland,
Sinket dereinst! Ein Jahrhundert nur noch;
So ist es geschehen, so herscht
Der Vernunft Recht vor dem Schwertrecht!

Denn im Haine brauset' es her gehohnes
Halses, und sprang, Flug die Mähne, dahin
Das heilige Ross, und ein Spott
War der Sturm ihm, und der Strom ihm!

Auf der Wiese stand es, und stampft', und blickte
Wiehernd umher; sorglos weidet' es, sah
Voll Stolz nach dem Reiter nicht hin,
Der im Blut lag an dem Gränzstein!

Nicht auf immer lastet es! Frey, o Deutschland,
Wirst du dereinst! Ein Jahrhundert nur noch;
So ist es geschehen, so herscht
Der Vernunft Recht vor dem Schwertrecht!

Friedrich Gottlieb Klopstock 

Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 – 1803), deutscher Dichter, Epiker

Das Rosenband

Im Frühlingsschatten fand ich sie

Im Frühlingsschatten fand ich sie:
Da band ich sie mit Rosenbändchen;
Sie fühlt es nicht und schlummerte.

Ich sah sie an: mein Leben hing
MIt diesem Blick an ihrem Leben:
Ich fühlt es wohl und wußt es nicht.

Doch lispelt ich ihr sprachlos zu,
Und rauschte mit den Rosenbändern:
Da wachte sie vom Schlummern auf.

Sie sah mich an: ihr Leben hing
Mit diesem Blick an meinem Leben,
Und um uns wands Elysium.

Friedrich Gottlieb Klopstock

Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 – 1803), deutscher Dichter, Epiker

S

Herbst

Ich lieb den Herbst, im Blicke Trauer

     Ich lieb den Herbst, im Blicke Trauer.
    In stillen Nebeltagen geh
    Ich oft durch Fichtenwald und seh
    Vor einem Himmel, bleich wie Schnee,
    Durch Wipfel wehen dunkle Schauer.
    Ich lieb, ein herbes Blatt zu Brei
    Zu kauen, lächelnd zu zerstören
    Den Traum, dem wir so gern gehören.
    Fern des Spechtes scharfer Schrei!
    Das Gras schon welk … schon starr vor Kühle,
    Von hellen Schleiern überhaucht.
    In mir das Weben der Gefühle,
    Das Herz in Bitternis getaucht …
    Soll ich Vergangenes nicht beschwören?
    Soll, was da war, nie wieder sein?
    Die Fichten nicken dunkel, hören
    Gelassen zu und flüstern Nein.
    Und da: ein ungeheures Lärmen,
    Ein Ineinanderwehn von Zweigen,
    Ein Rauschen wie von Vogelschwärmen,
    Die, einem Ruf gehorchend, steigen. 

Iwan Sergejewitsch Turgenjew

Iwan Sergejewitsch Turgenew – Иван Сергеевич Тургенев (1818 – 1883). russischer Dichter, Schriftsteller, Dramatiker, Erzähler

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Gemälde: Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818 – 1883)

Frühlingsabend

Die Erde ruht

Frühlingsabend

Die Erde ruht; am Himmel fliegen
Goldlichte Wolken sonder Zahl;
Des Thaues Demanttropfen liegen
Ringsum im weiten stillen Thal;
Das Bächlein plätschert um den Hügel;
Des Donners Schall verweht der West;
Der Wind schlägt machtlos mit dem Flügel,
Umstrickt vom starken Baumgeäst.

Der hohe Wald steht stumm und lauschend,
Es schweigt das grüne Waldesreich;
Im Dunkel bebt, kaum hörbar rauschend,
Ein schlummerloses Blatt am Zweig.
Im Abendroth erglüht allmälig
Der Liebe Stern so schön, so klar -
Und mir wird leicht und still und selig,
Wie einst, da noch ein Kind ich war! ... 

Iwan Sergejewitsch Turgenew

Iwan Sergejewitsch Turgenew – Иван Сергеевич Тургенев (1818 – 1883). russischer Dichter, Schriftsteller, Dramatiker, Erzähler

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Gemälde: Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818 – 1883)

Mondlose Nacht

O mondlos stille, warme Nacht

Mondlose Nacht

O mondlos stille, warme Nacht - versunken
In Liebesrausch, ermattet, wollusttrunken
Ruhst Du an Gattenbrust im Zauberbann! ...
Schwelgst Du vielleicht in süßem Hoffnungswahn,
In schmachtend selgem Ahnen des Genusses
Und harrst verschämt des heimlich glühen Kusses?
In Wen bist Du verliebt, o, Nacht, sag' an! ...
Doch ich entweihe Deine Liebesfeier,
Denn dichter wallen Deine Schattenschleier!

Du hast mich angesteckt ... Ich trinke Deinen Duft -
Entflammt hat meine Seele Deine Lust ....
Dein Lispeln hört mein Ohr, Dein endlos Flüstern -
Fremd ist es mir, doch tönt's so liebelüstern!
Ich sehe Deinen Lichterglanz - mein Blut
Wallt feuriger, das Antlitz flammt in Gluth,
Erinnerungen toben mir im Herzen
Voll Himmelsseligkeit und Höllenschmerzen ....
Und meine Stirn liebkosend, fächelt lind
Der schlaferwachte kühle Morgenwind ...

Iwan Sergejewitsch Turgenew

Iwan Sergejewitsch Turgenew – Иван Сергеевич Тургенев (1818 – 1883). russischer Dichter, Dramatiker, Erzähler

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Der Sperling

Auf der Heimkehr von der Jagd durchschritt ich die Gartenallee

Der Sperling

Auf der Heimkehr von der Jagd durchschritt ich die Gartenallee. Mein Hund lief vor mir her.

Plötzlich hemmte er seinen Lauf und begann zu schleichen, gleich als wittere er vor sich ein Wild.

Ich blickte die Allee hinunter und gewahrte einen jungen Sperling mit gelbgerandetem Schnabel und Flaum auf dem Köpfchen. Er war aus dem Neste gefallen – heftiger Wind schüttelte die Birken der Allee – und hockte unbeweglich, hilflos seine kaum hervorgesprossenen Flügelchen ausstreckend.

Langsam näherte mein Hund sich ihm, als plötzlich, von einem nahen Baume sich herabstürzend, der alte schwarzbrüstige Sperling wie ein Stein gerade vor seine Schnauze zu Boden fiel und völlig zerzaust, verstört, mit verzweifeltem, kläglichem Gezeter mehrmals gegen den scharfgezahnten, geöffneten Rachen lossprang. Er warf sich über sein Junges, um es zu retten, mit dem eigenen Leibe [31] wollte er es schützen … doch sein ganzer kleiner Körper bebte vor Schrecken, sein Stimmchen klang wild und heiser, Betäubung erfaßte ihn, er opferte sich selbst!

Als welch riesengroßes Untier mußte ihm der Hund erscheinen! Und dennoch hatte er nicht auf seinem hohen, sicheren Aste zu bleiben vermocht … Eine Macht, stärker als sein Wille, riß ihn von dort herab.

Mein Tresor hielt inne, wich zurück … Sichtlich begriff auch er diese Macht.

Schnell rief ich meinen verblüfften Hund zurück und entfernte mich, Ehrfurcht im Herzen.

Ja; lächelt nicht darüber. Ehrfurcht empfand ich vor diesem kleinen heldenmütigen Vogel, vor der überströmenden Kraft seiner Liebe.

Die Liebe, dachte ich, ist stärker als der Tod und die Schrecken des Todes. Sie allein, allein die Liebe erhält und bewegt unser Leben.

Iwan Sergejewitsch Turgenew

Iwan Sergejewitsch Turgenew – Иван Сергеевич Тургенев (1818 – 1883). russischer Dichter, Schriftsteller, Dramatiker, Erzähler

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Eine Lebensregel

Wenn Sie mal den Wunsch haben

Eine Lebensregel

»Wenn Sie mal den Wunsch haben, ihrem Gegner gehörig mitzuspielen und ihn womöglich zu kränken,« sagte mir einst ein alter Schlaukopf, »dann werfen Sie ihm nur denselben Fehler oder dasselbe Laster vor, dessen Sie sich selber bewußt sind. – Spielen Sie den Entrüsteten … und tadeln Sie ihn!

»Denn erstens – bringt dies dem anderen die Meinung bei, daß Sie von diesem Laster frei wären.

»Zweitens – darf Ihre Entrüstung sogar eine aufrichtige sein … Sie können aus den Vorwürfen Ihres eigenen Gewissens Nutzen ziehen.

»Sind Sie beispielsweise ein Renegat – dann werfen Sie Ihrem Gegner vor, er sei ohne jede Überzeugung! Sind Sie selber eine Lakaienseele – dann sagen Sie ihm in vorwurfsvollem Tone, er sei ein Lakai … ein Lakai der Zivilisation, der Aufklärung, des Sozialismus!«

»Man könnte vielleicht sogar sagen: ein Lakai des Lakaienhasses!« bemerkte ich.

»Selbst dies!« erwiderte prompt der Schlaukopf.

Iwan Sergejewitsch Turgenew

Iwan Sergejewitsch Turgenew – Иван Сергеевич Тургенев (1818 – 1883). russischer Dichter, Schriftsteller, Dramatiker, Erzähler

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