Sehnsucht

Da mein Sinn so zu dir steht

Sehnsucht

Warum Schmachten?
Warum Sehnen?
Alle Tränen
Ach! sie trachten
Weit nach Ferne,
Wo sie wähnen
Schönre Sterne.
Leise Lüfte
Wehen linde,
Durch die Klüfte
Blumendüfte,
Gesang im Winde.
Geisterscherzen,
Leichte Herzen!
Ach! ach! wie sehnt sich für und für
O fremdes Land, mein Herz nach dir!
Werd' ich nie dir näher kommen,
Da mein Sinn so zu dir steht?
Kömmt kein Schifflein angeschwommen,
Das dann unter Segel geht?
Unentdeckte ferne Lande, –
Ach mich halten ernste Bande,
Nur wenn Träume um mich dämmern,
Seh' ich deine Ufer schimmern,
Seh' von dorther mir was winken, –
Ist es Freund, ist' s Menschgestalt?
Schnell muß alles untersinken,
Rückwärts hält mich die Gewalt. –
Warum Schmachten?
Warum Sehnen?
Alle Tränen
Ach! sie trachetn
Nach der Ferne,
Wo sie wähnen
Schönre Sterne. – -

Ludwig Tieck

Ludwig Tieck (1773 – 1853), deutscher Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Herausgeber

Herbstlied

Feldeinwärts flog ein Vögelein

Herbstlied

Feldeinwärts flog ein Vögelein,
Und sang im muntern Sonnenschein
Mit süßem wunderbarem Ton:
Ade! ich fliege nun davon,
Weit! weit!
Reis' ich noch heut.
Ich horchte auf den Feldgesang,
Mir ward so wohl und doch so bang;
Mit frohem Schmerz, mit trüber Lust
Stieg wechselnd bald und sank die Brust:
Herz! Herz!
Brichst du vor Wonn' oder Schmerz?
Doch als ich Blätter fallen sah,
Da sagt ich: Ach! der Herbst ist da,
Der Sommergast, die Schwalbe, zieht,
Vielleicht so Lieb und Sehnsucht flieht,
Weit! weit!
Rasch mit der Zeit.
Doch rückwärts kam der Sonnenschein,
Dicht zu mir drauf das Vögelein,
Es sah mein tränend Angesicht
Und sang: die Liebe wintert nicht,
Nein! nein!
Ist und bleibt Frühlingesschein.

Ludwig Tieck

Ludwig Tieck (1773 – 1853), deutscher Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Herausgeber

Dichtkunst

Durch Himmelsplan die roten Wolken ziehen

Dichtkunst

Durch Himmelsplan die roten Wolken ziehen,
Beglänzet von der Sonne Abendstrahlen,
Jetzt sieht man sie in hellem Feuer glühen,
Und wie sie sich in seltsam Bildnis mahlen:
So oftmals Helden, große Thaten blühen,
Aufsteigend aus der Zeiten goldnen Schaalen,
Doch wie sie noch die Welt am schönsten schmücken,
Fliehn sie wie Wolken und ein schnell Entzücken.
Was dieser fliehnde Schimmer will bedeuten,
Die Bildnis, die sich durch einander jagen,
Die Glanzgestalten, die so furchtbar schreiten,
Kann nur der Dichter offenbarend sagen;
Es wechseln die Gestalten wie die Zeiten,
Sind sie euch Rätsel, müßt ihr ihn nur fragen,
Ewig bleibt stehn in seinem Lied gedichtet,
Was die Natur schafft und im Rausch vernichtet.
Es wohnt in ihr nur dieser ewge Wille
Zu wechseln mit Gebären und Erzeugen,
Vom Chaos zieht sie ab die dunkle Hülle,
Die Tön' erweckt sie aus dem todten Schweigen,
Ein Lebensquell regt sich die alte Stille,
In der Gebilde auf und nieder steigen,
Nur Phantasie schaut in das ewge Weben,
Wie aus dem Tod' erblüht verjüngtes Leben

Ludwig Tieck

Ludwig Tieck (1773 – 1853), deutscher Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Herausgeber

Lied vom Reisen

Willst du dich zur Reis‘ bequemen

Lied vom Reisen

Willt du dich zur Reis' bequemen
Über Feld
Berg und Tal
Durch die Welt,
Fremde Städte allzumal,
Mußt Gesundheit mit dir nehmen.

Neue Freunde aufzufinden
Läßt die alten du dahinten,
Früh am Morgen bist du wach,
Mancher sieht dem Wandrer nach
Weint dahinten,
Kann die Freud' nicht wiederfinden.

Eltern, Schwester, Bruder, Freund,
Auch vielleicht das Liebchen weint;
Laß sie weinen, traurig und froh
Wechselt das Leben bald so bald so
Nimmer ohne Ach! und O!
Heimat bleibt dir treu und bieder,
Kehrst du nur als Treuer wieder,
Reisen und Scheiden
Bringt des Wiedersehens Freuden.

Ludwig Tieck

Ludwig Tieck (1773 – 1853), deutscher Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Herausgeber

Elegie

Nicht des Seins und nicht des Werdens

Elegie

Wehe! Wehe diesen Zeiten!
Nicht des Seins und nicht des Werdens
Zarte Frühlingskraft durchwärmt sie:
Zur des Lichts Sumpfblumen blühen.

Denn im Hohn der Gegensätze
Fehlt der Balsam der Vermittlung,
Und an dialekt'schem Krampfe
Kranket jetzt das Universum.

Statt mit vollem Zug zu schlürfen
Von des absoluten Äther,
Drohn im primitiven Urschlamm
Die Subjekte zu versinken.

Und ob sie das Objektive
Auch mit Kraft und Spat zerhacken:
Keinem neigt die Wünschelrute
Zu dem Erz sich des Begriffes.

An der Zukunft Horizont drum
Glühn nur wilddramat'sche Flammen,
Denn in Kirche, Staat und Leben
Ist das Ethos jäh verduftet.
- Dies erwägende lenkt der Denker
Seine Schritte stumm zur Schenke,
Und er trinkt im trüben Pathos
Ob der Zeit chaot'schem Wimmeln.

Und begrifflich säuft er weiter,
Und wenn er im schiefen Gang dann
Basislos und krumm herumwankt,
Spiegelt sich in ihm das Weltall!
Joseph Victor von Scheffel 

Joseph Victor von Scheffel (1826 – 1886), Joseph Victor Scheffel, ab 1876 von Scheffel, deutscher Schriftsteller und Dichter

Guano

Die Vögel sind all‘ Philosophen

Guano

Ich weiß eine friedliche Stelle
Im schweigenden Ozean,
Kristallhell schäumet die Welle
Am Felsengestade hinan.
Im Hafen erblickst du kein Segel,
Keines Menschen Fußtritt am Strand;
Viel tausend reinliche Vögel
Hüten das einsame Land.

Sie sitzen in frommer Beschauung,
Kein einz'ger versäumt seine Pflicht,
Gesegnet ist ihre Verdauung
Und flüssig als wie ein Gedicht.
Die Vögel sind all' Philosophen,
Ihr oberster Grundsatz gebeut:
»Den Leib halt' allezeit offen
Und alles andre gedeiht.«

Was die Väter geräuschlos begonnen,
Die Enkel vollenden das Werk;
Geläutert von tropischen Sonnen,
Schon türmt es empor sich zum Berg.
Sie sehen im rosigsten Lichte
Die Zukunft und sprechen in Ruh':
"Wir bauen im Lauf der Geschichte
Noch den ganzen Ozean zu."

Und die Anerkennung der Besten
Fehlt ihren Bestrebungen nicht,
Denn fern im schwäbischen Westen
Der Böblinger Repsbauer spricht:
"Gott segn' euch, ihr trefflichen Vögel,
An der fernen Guanoküst', –
Trotz meinem Landsmann, dem Hegel,
Schafft ihr den gediegensten Mist!"

Joseph Victor von Scheffel

Joseph Victor von Scheffel (1826 – 1886), Joseph Victor Scheffel, ab 1876 von Scheffel, deutscher Schriftsteller und Dichter

Der Granit

Sprach grollend der alte Granit

Der Granit

In unterirdischer Kammer
Sprach grollend der alte Granit:
»Da droben den wäßrigen Jammer
Den mach' ich jetzt länger nicht mit.
Langweilig wälzt das Gewässer
Seine salzige Flut übers Land,
Statt stolzer und schöner und besser
Wird alles voll Schlamm und voll Sand.
Das gäb' eine mitleidwerte
Geologische Leimsiederei,
Wenn die ganze Kruste der Erde
Nur ein sedimentäres Gebräu.
Am End' würd' noch Fabel und Dichtung,
Was ein Berg – was hoch und was tief;
Zum Teufel die Flözung und Schichtung,
Hurra! ich werd' eruptiv!«
Er sprach's, und zum Beistand berief er
Die tapfern Porphyre herbei,
Die kristallinischen Schiefer
Riß höhnisch er mitten entzwei.
Das zischte und lohte und wallte,
Als nahte das Ende der Welt;
Selbst Grauwack, die züchtige Alte,
Hat vor Schreck auf den Kopf sich gestellt.
Auch Steinkohl' und Zechstein und Trias
Entwichen, im Innern gesprengt,
Laut jammert im Jura der Lias,
Daß die Glut ihn von hinten versengt.
Auch die Kalke, die Mergel der Kreiden
Sprachen später mit wichtigem Ton:
»Was erstickte man nicht schon beizeiten
Den Keim dieser Revolution?«
Doch vorwärts, trotz Schichten und Seen,
Drang siegreich der feurige Held,
Bis daß er von sonnigen Höhen
Zu Füßen sich schaute die Welt.
Da sprach er mit Jodeln und Singen:
»Hurra! das wäre geglückt!
Auch unsereins kann's zu was bringen,
Wenn er nur herzhaftiglich drückt!«

Joseph Victor von Scheffel

Joseph Victor von Scheffel (1826 – 1886), Joseph Victor Scheffel, ab 1876 von Scheffel, deutscher Schriftsteller und Dichter

Die beiden Tauben

Zwei Täubchen liebten sich mit zarter Liebe

Die beiden Tauben.
Eine Fabel nach Lafontaine

Zwei Täubchen liebten sich mit zarter Liebe.
Jedoch, der weichen Ruhe überdrüssig,
Ersann der Tauber eine Reise sich.
Die Taube rief: »Was unternimmst du, Lieber?
Von mir willst du, der süßen Freundin, scheiden:
Der Uebel größtes, ist's die Trennung nicht?
Für dich nicht, leider, Unempfindlicher!
Denn selbst nicht Mühen können und Gefahren,
Die schreckenden, an diese Brust dich fesseln.
Ja, wenn die Jahrszeit freundlicher dir wäre!
Doch bei des Winters immer regen Stürmen
Dich in das Meer hinaus der Lüfte wagen!
Erwarte mindestens den Lenz! Was treibt dich?
Ein Rab' auch, der den Himmelsplan durchschweifte,
Schien mir ein Unglück anzukündigen.
Ach, nichts als Unheil zitternd werd' ich träumen
Und nur das Netz stets und den Falken sehn.
Jetzt ruf' ich aus, jetzt stürmt's: mein süßer Liebling,
Hat er jetzt alles auch, was er bedarf,
Schutz und die goldne Nahrung, die er braucht,
Weich auch und warm ein Lager für die Nacht
Und alles Weitre, was dazu gehört?« –
Dies Wort bewegte einen Augenblick
Den raschen Vorsatz unsers jungen Toren;
Doch die Begierde trug, die Welt zu sehn,
Und das unruh'ge Herz den Sieg davon.
Er sagte: »Weine nicht! Zwei kurze Monden
Befriedigen jedweden Wunsch in mir.
Ich kehre wieder, Liebchen, um ein Kleines,
Jedwedes Abenteuer, Zug vor Zug,
Das mir begegnete, dir mitzuteilen.
Es wird dich unterhalten, glaube mir!
Ach, wer nichts sieht, kann wenig auch erzählen.
Hier, wird es heißen, war ich; dies erlebt' ich;
Dort auch hat mich die Reise hingeführt;
Und du, im süßen Wahnsinn der Gedanken,
Ein Zeuge dessen wähnen wirst du dich.« –
Kurz, dies und mehr des Trostes zart erfindend,
Küßt er – und unterdrückt, was sich ihm regt –
Das Täubchen, das die Flügel niederhängt,
Und fleucht. –
                        Und aus des Horizontes Tiefe
Steigt mitternächtliches Gewölk empor,
Gewitterregen häufig niedersendend.
Ergrimmte Winde brechen los: der Tauber
Kreucht untern ersten Strauch, der sich ihm beut.
Und während er, von stiller Oed' umrauscht,
Die Flut von den durchweichten Federn schüttelt,
Die strömende, und seufzend um sich blickt,
Denkt er, nach Wandrerart, sich zu zerstreun,
Des blonden Täubchens heim, das er verließ,
Und sieht erst jetzt, wie sie beim Abschied schweigend
Das Köpfchen niederhing, die Flügel senkte,
Den weißen Schoß mit stillen Tränen netzend;
Und selbst, was seine Brust noch nie empfand,
Ein Tropfen, groß und glänzend, steigt ihm auf.
Getrocknet doch, beim ersten Sonnenstrahl,
So Aug' wie Leib, setzt er die Reise fort
Und kehrt, wohin ein Freund ihn warm empfohlen,
In eines Städters reiche Wohnung ein.
Von Moos und duft'gen Kräutern zubereitet
Wird ihm ein Nest, an Nahrung fehlt es nicht,
Viel Höflichkeit, um dessen, der ihn sandte,
Wird ihm zuteil, viel Güt' und Artigkeit:
Der lieblichen Gefühle keins für sich.
Und sieht die Pracht der Welt und Herrlichkeiten,
Die schimmernden, die ihm der Ruhm genannt,
Und kennt nun alles, was sie Würd'ges beut,
Und fühlt' unsel'ger sich als je, der Arme,
Und steht, in Oeden steht man öder nicht,
Umringt von allen ihren Freuden, da
Und fleucht, das Paar der Flügel emsig regend,
Unausgesetzt, auf keinen Turm mehr achtend,
Zum Täubchen hin und sinkt zu Füßen ihr
Und schluchzt in endlos heftiger Bewegung
Und küsset sie und weiß ihr nichts zu sagen –
Ihr, die sein armes Herz auch wohl versteht!
    Ihr Sel'gen, die ihr liebt, ihr wollt verreisen?
O, laßt es in die nächste Grotte sein!
Seid euch die Welt einander selbst und achtet
Nicht eines Wunsches wert das übrige!
Ich auch, das Herz einst eures Dichters, liebte:
Ich hätte nicht um Rom und seine Tempel,
Nicht um des Firmamentes Prachtgebäude
Des lieben Mädchens Laube hingetauscht!
Wann kehrt ihr wieder, o ihr Augenblicke,
Die ihr dem Leben einz'gen Glanz erteilt?
So viele jungen, lieblichen Gestalten,
Mit unempfundnem Zauber sollen sie
An mir vorübergehn? Ach, dieses Herz!
Wenn es doch einmal noch erwarmen könnte!
Hat keine Schönheit einen Reiz mehr, der
Mich rührt? Ist sie entflohn, die Zeit der Liebe –?

Heinrich von Kleist

Heinrich von Kleist (1777 – 1811), Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist, deutscher Dramatiker, Novellist, Bühnenschriftsteller, Erzähler, Dichter, Puplizist

Das öde Haus

Zuweilen ein Schmetterling

Das öde Haus

Tiefab im Tobel liegt ein Haus,
Zerfallen nach des Försters Tode,
Dort ruh' ich manche Stunde aus,
Vergraben unter Rank' und Lode;
'S ist eine Wildniß, wo der Tag
Nur halb die schweren Wimpern lichtet;
Der Felsen tiefe Kluft verdichtet
Ergrauter Aeste Schattenhaag.

Ich horche träumend, wie im Spalt
Die schwarzen Fliegen taumelnd summen,
Wie Seufzer streifen durch den Wald,
Am Strauche irre Käfer brummen;
Wenn sich die Abendröte drängt
An sickernden Geschiefers Lauge,
Dann ist's als ob ein trübes Auge,
Ein rothgeweintes drüber hängt.

Wo an zerrißner Laube Joch
Die langen magern Schoßen streichen,
An wildverwachs'ner Hecke noch
Im Moose Nelkensprossen schleichen,
Dort hat vom tröpfelnden Gestein
Das dunkle Naß sich durchgesogen,
Kreucht um den Buchs in trägen Bogen,
Und sinkt am Fenchelstrauche ein.

Das Dach, von Moose überschwellt,
Läßt wirre Schober niederragen,
Und eine Spinne hat ihr Zelt
Im Fensterloche aufgeschlagen;
Da hängt, ein Blatt von zartem Flor,
Der schillernden Libelle Flügel,
Und ihres Panzers goldner Spiegel
Ragt kopflos am Gesims hervor.

Zuweilen hat ein Schmetterling
Sich gaukelnd in der Schlucht gefangen,
Und bleibt sekundenlang am Ring
Der kränkelnden Narzisse hangen;
Streicht eine Taube durch den Hain,
So schweigt am Tobelrand ihr Girren,
Man höret nur die Flügel schwirren
Und sieht den Schatten am Gestein.

Und auf dem Heerde, wo der Schnee
Seit Jahren durch den Schlot geflogen,
Liegt Aschenmoder feucht und zäh,
Von Pilzes Glocken überzogen;
Noch hängt am Mauerpflock ein Rest
Verwirrten Wergs, das Seil zu spinnen,
Wie halbvermorschtes Haar, und drinnen
Der Schwalbe überjährig Nest.

Und von des Balkens Haken nickt
Ein Schellenband an Schnall' und Riemen,
Mit grober Wolle ist gestickt
"Diana" auf dem Lederstriemen;
Ein Pfeifchen auch vergaß man hier,
Als man den Tannensarg geschlossen;
Den Mann begrub man, tot geschossen
Hat man das alte treue Thier.

Sitz ich so einsam am Gesträuch
Und hör' die Maus im Laube schrillen,
Das Eichhorn blafft von Zweig zu Zweig,
Am Sumpfe läuten Unk' und Grillen –
Wie Schauer überläuft's mich dann,
Als hör' ich klingeln noch die Schellen,
Im Walde die Diana bellen
Und pfeifen noch den toten Mann.

Annette von Droste 

Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff (1797 – 1848), deutsche Schriftstellerin, Komponistin

Sommer

Du gute Linde, schüttle dich

Sommer

Du gute Linde, schüttle dich!
Ein wenig Luft, ein schwacher West!
Wo nicht, dann schließe dein Gezweig
So recht, dass Blatt an Blatt sich presst.

Kein Vogel zirpt, es bellt kein Hund;
Allein die bunte Fliegenbrut
Summt auf und nieder übern Rain
Und lässt sich rösten in der Glut.

Sogar der Bäume dunkles Laub
Erscheint verdickt und atmet Staub.
Ich liege hier wie ausgedorrt
Und scheuche kaum die Mücken fort.

O Säntis, Säntis! läg' ich doch
Dort, - grad' an deinem Felsenjoch,
Wo sich die kalten, weißen Decken
So frisch und saftig drüben strecken,
Viel tausend blanker Tropfen Spiel;
Glücksel'ger Säntis, dir ist kühl!

Annette von Droste 

Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff (1797 – 1848), deutsche Schriftstellerin, Komponistin