Vorstellung der Welt

der die Welt widerspricht

Das Traurigste ist, dass man von der Welt eine Vorstellung hat, der die Welt widerspricht.

Charles Ferdinand Ramus

Charles Ferdinand Ramus, 1878 – 1947, Schweizer Schriftsteller, Lyriker, Dichter, Künstler

Leben gestalten

ist unsere Sache

Es ist unsere Sache, unser Leben zu gestalten.

Charles Ferdinand Ramus

Charles Ferdinand Ramus, 1878 – 1947, Schweizer Schriftsteller, Lyriker, Dichter, Künstler

Wiederbeginn

Er sah, dass im Leben alles ein Wiederbeginn ist. Etwas wird gemacht, nur um wieder aufgelöst zu werden und abermals aufgelöst.

Charles Ferdinand Ramus

Charles Ferdinand Ramus, 1878 – 1947, Schweizer Schriftsteller, Lyriker, Dichter, Künstler

Glücklich sein

Was brauchte es, damit einer glücklich wurde?

Was brauchte es, damit einer glücklich wurde? Zehn Franken am Tag? Sagen wir lieber gleich fünfzehn. Und auch das wäre nicht genug. Denn man sollte sie nicht verdienen müssen: die fünfzehn Franken sollten von selber kommen, zur festgesetzten Zeit …

Charles Ferdinand Ramus

Charles Ferdinand Ramus, 1878 – 1947, Schweizer Schriftsteller, Lyriker, Dichter, Künstler

Mitleid

ist ein Sonntagsgefühl

Bei den Menschen ist das Mitleid ein Sonntagsgefühl: Es ist wie die schönen Kleider, die man nicht jeden Tag anzieht.

Charles Ferdinand Ramus

Charles Ferdinand Ramus, 1878 – 1947, Schweizer Schriftsteller, Lyriker, Dichter, Künstler

Necken

dass man aufhören kann

Man darf schon jemanden necken, aber nur unter der Bedingung, dass man aufhören kann, wenn man sieht, dass der Spaß eine schlechte Wendung nimmt.

Charles Ferdinand Ramus

Charles Ferdinand Ramus, 1878 – 1947, Schweizer Schriftsteller, Lyriker, Dichter, Künstler

Furchtlos

Sein Atem war Muschelrauschen in Stille

Fruchtlos

Die Frauen des Westens tragen den Schleier nicht.
Die Frauen des Ostens legen ihn ab.
Ich möchte mein Antlitz mit dunklem Schleier verhüllen;
Denn es ist nicht schön mehr zu schauen, nicht lieblich
mehr, denn es ist graulich und rissig wie Steine
morschen, erkalteten Herdes.
Mein Haar stäubt Asche.
So will ich warten allein in Dämmerung auf schmaler,
hochlehniger Bank,
So will ich sitzen, da zögernd Nacht um mich sinkt,
Ein schwarzer Schleier.
Ich ziehe ihn um mich und bedecke mein Gesicht.
Doch meine Augen starren . . .

Ich sehe. Ich fühle :
Durch die verschlossene Tür tritt lautlos ein Kind.
Das einzige, das mir zubestimmt und das ich nicht geboren.
Nicht geboren um meiner Sünde willen; Gott ist gerecht.
Und ich schweige, und murre nicht, ich trage und berge
das Haupt, und so darf ich es suchen
Manchen Abend.
Ein Knabe.
Nur dieser eine : zart, stumm und flehend, mit weichen
düsteren Locken,
Unter braunlicher Stirn die fremden graugrünen Meeraugen
dessen, den ich geliebt, den ich immer liebe.
Er fürchtet mich nicht, bebt nicht zurück vor dem Schmeicheln
der welken Lippen und Hände.
Er naht, und sein blauer Sammet rührt meinen Arm, und
seine spielenden kleinen Finger greifen nach meiner Seele
Und tun ihr weh.
Zuweilen bringt er mir seine Murmel, die finstere, golden
geäderte, Tigerauge genannt,
Oder auch eine Blume, blasse Narzisse,
Oder auch eine Muschel, rötlich mit Warzen; er hebt sie
sacht an mein Ohr, und ich höre dem Rauschen zu.
Einst
Um die Hälfte der Nacht, der Winternacht,
Erwacht ich und schaute durch Schatten:
Der mich liebte, ruhte auf meinem Lager und schlief.
Sein Atem war Muschelrauschen in Stille.
Ich lauschte.
Und er schlummerte tief, so geborgen in meiner Liebe
Unter Träumen: sie falteten über ihm Flügel, purpurn wie
Saft des besamten Granatapfels, den wir geteilt.
Friede.
Und ich war glüklich und hob mich und saß, innig betend,
Und neigte wieder das Angesicht und hielt es mit Händen
und stammelte Dank um Dank.
Aus meinem Blut
Knospete eine Rose ...
Das war die Keimnacht,
Die Segen wollte, Nacht der ungeflüsterten Bitte, doch ich
empfing dich nicht.
Sieh deine Mutter weinen ...
Auch du wirst sterben.
Morgen werde ich einen Spaten nehmen, unter die
Schneebeersträucher gehen und dich begraben.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin

Die Tage

Nur einer kam

Die Tage

Die Tage suchen einsam ihre Stühle
Und sitzen nieder ohne Blick noch Wort.
Der Abend weht. Sie schauern in der Kühle,
Verhüllen sich, stehn auf und schreiten fort.

Doch mancher war, der nicht gelassen blieb,
Der lachend, weinend durch die Stunden tollte,
Mich unbedacht in Gram und Jauchzen trieb
Und zuckend festhielt, als er wandern sollte.

Nur einer kam – im Kleid wie Gras und Sand –
Er trällerte ein rotes Liebeslied,
Nahm, da es Zeit war, lächelnd meine Hand
Und legt’ ein kleines Licht hinein und schied.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin

um ca. 1915 geschrieben

Engel im Walde

Mit weichem Fuß. er hatte ewig Zeit

Engel im Walde

Ich aber traf ihn nachmittags im Wald.
Ein Wunder, das durch Buchenräume ging,
So menschenfern, so steigend die Gestalt,
Dass blaue Luft im Fittich sich verfing;

Das Antlitz schien ein reines, stilles Leid,
Sehr sanft und silbrig rieselte das Haar,
In großen Falten schritt das weiße Kleid.
Er schaffte nichts, er sagte nichts; er war.

Und nichts an ihm, was schreckte, was verbot,
Und dennoch: keines Sterbens Weg genoss,
Daß meine Lippe, ob auch unbedroht,
Erstaunten Ruf, die Frage stumm verschloss.

Ein Blatt entwehte an sein Gürtelband,
Vergilbt und schon ein wenig kraus gerollt;
Er fing und trug es in der schmalen Hand
Wie ein Geschenk aus Bronze und aus Gold.

Wer sah ihm zu? Das Eichhorn, rot am Ast,
Und Rehe, die das Buschwerk schnell verlor.
Und Erlen wanden schon im Abendglast
Wie schwarze Schlangen züngelnd sich empor.

Er regte kaum die dünne Blätterschicht
Mit weichem Fuß. Er hatte ewig Zeit
Und zog: wohin? In Stadt und Dörfer nicht;
Er wallte außer aller Wirklichkeit.

Nicht unsre Not, nicht unser armes Glück,
Nur keusche Ruhe barg sein Schwingenpaar
Ich folgte nach und stand und blieb zurück.
Er brachte nichts, er sagte nichts: er war.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin

Die Biene

Flughauch läßt klingen

Die Biene

Die kleine Seele
Zarter Symbole
Taucht in das Füllhorn
Früher Gladiole,
Schöpft weiße Schaummilch,
Brockt gelbe Bretzel,
Folgt eines Windes
Freundlichem Rätsel.

Flughauch läßt klingen
Goldtropfenblumen;
Da sie noch schwingen,
Löst sie die Krumen.
Winziger Engel,
Summende Flocke,
Rührt sie den Schwengel
Glitzernder Glocke.

Des Kindes Auge,
Das Gott zerbrochen,
Eh' es zu Rosen
Leuchtend gesprochen,
Schwebt aus den Lidern,
Die sich ihm sperrten,
Hängt braun und samten
An Sonnengärten.

Gertrud KOlmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin