Eher kannst du einen Tropfen Wasser wiederfinden, der sich im Luftmeer verloren hat.
Georg Christoph Lichtenberg
Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799), deutscher Schriftsteller, Philosoph, Naturforscher, Physiker, Mathematiker
aus: „Aphorismen“ von Georg Christoph Lichtenberg. Nach den Handschriften Herausgegeben von Albert Leitzmann (1867 – 1950). Drittes Heft: 1775 – 1779. Verlag: B. Behr, Berlin, 1902. Seite 11, Nr. 47
Blauvöglein
Juchhe!! Ju!! - - dem letzten Gipfel zu!!
- Enzianen schimmern auf der Weide;
Der Äther rändert sich
Gleich einer Glocke rings der Heide;
Von Wolkenschäfchen ein Gewimmel
Befleckt den blauen Himmel.
Bestimmt: das Wetter ändert sich.
Vorwärts! - und rüstig fort!
Was Blaues seh' ich dort
Über dem Weg, immer am selben Ort
Wimmeln und wispeln geschwind
Und im Kreise sich dreh'n wie der Wirbelwind?
Enzianen scheinen's aus der Ferne;
Noch eher ein Geschwister blauer Augensterne;
Oder am Ende vielleicht ein kristallen
Bruchstückchen Himmel, auf den Berg gefallen.
Allein am Himmel müßt' ich doch
Entdecken irgendwo ein Loch;
Enzianen könnten sich nicht rühren;
Und wären's blaue Augen, was ich seh',
Ich müßt' es spüren,
Es tät' mir weh.
Leise! - - - durchs Weggeleise!
Und als ich nun verwundert näher ging,
Da war es wohl ein gutes Hundert Schmetterling,
Die Engelflügel, winzig von Natur,
Vom wahrsten, klarsten himmlischen Azur.
Die Einen schwärmten kreuz und quer
Wirbelnd und kreiselnd in der Luft umher;
Ein andrer Knäuel sog
An einem Pfützchen Wasser unterm Brunnentrog.
Dort klebten sie in dichten Truppen
Trinkend und schmausend an der spärlichen Oase.
Blau schien der Weg, besät mit Himmelsstaub und -Schuppen.
Und immer neue Völker, schwärmender Ekstase
Stürzten von oben her in blauen Schnuppen.
Und all' das Steigen, Fallen und Bewegen
War von Lazur ein Engelregen.
Einstweilen - - - laß' uns hier weilen!
Mein Herz ist weit,
Und merk' ich etwas Schönes, hab' ich immer Zeit.
Doch als ich auf dem Baumstamm überm Born
Schickte mich an ein Lager zu bereiten,
Sieh' da begann ein solcher Zwerg
In großem Zorn
Feindlich an mich heranzureiten,
Mit Spieß und mit Flamberg -
Und aufgerecktem Horn,
Sachte! mein tapfrer Held! - Allmend ist dieses Feld!
Zwar will ich euch in eurem Trunk nicht stören,
Allein der Strunk darf jedermann gehören.
Nach diesem ballte sich die Wolke
Und tanzte Ball mit allem Volke;
Schwingend die blauen Fahnen
Und springend auf den Enzianen
Den Ringelreigen von der "schönsten Jungfer."
Das war ein Bild von Lust und Leben froh!
Und eh' ich mir's bewußt, so macht' ich's ebenso;
Springend im Herzen von der schönsten Jungfer
Und dichtend wie es quoll,
Den ganzen Himmel voll.
Verschwunden waren Berg und Heide,
Ich saß auf einer schönen, reinen Engelweide.
Frieden. - Was mich bewegte, ließ ich nieden.
Hört' ich nichts knittern? und etwas rauschen?
Warum dies Zittern und bange Lauschen?
- Plötzlich zehn Finger mit verschränkter Hand
Umspannten mein Gesicht mit rosiger Wand:
""Rate, wer bin ich?""
"Dies Rätsel gewinn ich:
Zwei Lippen zum Nippen,
Zwei Augen, die nichts taugen,
Ein Zünglein zum Schneiden,
Und ein Mäulchen zum Beneiden,
Das Ganze, das ich hab' im Sinn,
Ist eine Männermörderin.
Gott sei mir armen Sünder gnädig!
- Laß' mich nun los und gib mich ledig!"
Was blieb da lang zu streiten nötig?
Sie zu begleiten war ich rasch erbötig.
Doch wie wir jetzt vorüber der Oase
Schritten dem Tal entgegen - Hu!!
Saß ein Blauvögelein im Nu
Kribbelnd auf meiner Nase.
Das kitzelt' und kritzelt' und blinzte mir zu: ""Du!
Das war ein Rendezvous!
Bekenn!""
"Und wenn?"
Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 65
Blauer Morphofalter von Maria Sibylla Merian (1647 – 1717)
Zitronenfalter I
Aufrechten Hauptes eine Jungfrau eifrig schrieb.
Da blitzt' ein Maigewittersturm herein und trieb
Kastanienblüten streuend auf die nassen Blätter.
Und mitten in dem Blütensturm und Maienwetter
Ein gelb Oranien-Vögelein, im Todesbangen
Zitternd und sterbend, blieb an ihrem Finger hangen.
Da holte sie ein neu' Papier mit sachter Hand,
Und auf den Tisch gebeugt, seitwärts das Haupt gewandt,
Mit feuchten Blicken und mit träumerischem Sinnen
Entschloß sie sich, ein ander Schreiben zu beginnen.
Also mit seinem Sterben ein Zitronenfalter
Erschmeichelte das Lebensglück dem Brieferhalter.
Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 65
Zitronenfalter II
"Geh weg! du häßlich Gretchen! Was kommt dir in den Sinn,
So nah' bei mir zu stehen, die ich so lieblich bin?"
So rief die schöne Stephie. - Da kam ein gelbes Ding
Von Schmetterling geflogen, den sie behende fing.
Das Gretchen trat daneben, vergessend ihren Zwist:
"Nicht wahr? du läßt ihn leben? - Da er so lieblich ist."
Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 66
Pfauenauge
Ein kühles Schloß, ein schattiger Palast von Nesseln. -
Dicke Marienkäferchen mit rundem Schild
Reisen geschäftig trippelnd durch die Jalousien.
Zuoberst unterm Dache, am Mansardenfenster
Sitzt äsend eine schwarze, blaugeperlte Raupe.
Plötzlich ein dunkler Tulpenschein verdeckt die Aussicht -
Und schlüpfend in die Nesseln durch das schmale Fenster
Ein Pfauenauge zieht in seine Jugendheimat.
Flatternd durcheilt es die geliebten Säle, rot
Mit blut'gem Flammenlicht erhellend den Palast.
Plötzlich entspringt es durch die Tür. Ein Blitz. Verschwunden.
Aber die Raupe, ob dem Purpurflammenspiel
Jählings erfaßt von unnennbarer Seelensehnsucht,
Steigt auf das Dach und klettert an der steilen Mauer
Empor zum Sims. Daselbst, hangend in freier Luft,
Spinnt sie sich ab von aller Welt und träumt und dichtet.
Ob ihrem Träumen färbt und schildert sich ihr Wesen;
Ob ihrem Dichten füllt sie sich mit rotem Herzblut;
Während die Wintersonne, glitzernd überm Eis,
Schmückt ihr den Helm mit Gold und stählt den Schild und Panzer.
Bis daß nach langer Zeit an einem Mai und Morgen
Die Grille zirpt und schreit die Lerche überm Saatfeld:
Da zwängt und drängt sie sich ans Licht nach heft'gen Krämpfen
Und weint fünf Tropfen zähen Blutes. Plötzlich - ha! -
Bin ich es selbst? Mich dünkt, ich spüre Geist und Flügel!
Es hebt und trägt mich! Auf! empor zum hohen Himmel!
Gefahr zu suchen und die weite Welt zu messen.
Das höchste Los und Glück auf Erden nenn' ich mein:
Leibhaft zu wissen meinen besten Seelenschein
Und was ich vormals stumm bewundert selbst zu sein.
Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 40 – 41
Tagpfauenauge von Maria Sibylla Merian (1647 – 1717)
Distelfalter
Ein Brücklein überspringt die hohen Gartenmauern,
Und aus dem Brücklein überwuchern Hängeblumen,
Drunten im kühlen, mitternächt'gen Straßendurchgang
Blitzen, das Weberschiffchen streichend, flinke Fliegen.
Aber von oben, aus den riesigen Platanen
Durchs Blättersieb mit träumerischem Feuerregen
Rieseln die Sonnentropfen in den finstern Durchgang.
Da sprach zur Sonnenkönigin ein Distelfalter:
"Komm! schaff mir eine Leiter." Und sogleich die Sonne
Mit letzter Kraft sich drückend durch das dichte Laubwerk,
Stellt' einen breiten Strahl als Leiter auf das Brücklein.
Hüpfend vor Schwebelust, bestieg der Distelfalter
Die steile Leiter. Und mit klugem Flügelschlag
Das Gleichgewicht erzielend, sprang er leicht und tänzelnd
Die Stufen abwärts in den sonn'gen Blumennimbus.
Dort schaukelt' er und ritt, ein luftig Perpendikel,
Der Schönheit selbstbewußt und selbst die Schönheit schmückend,
Saugend und hauchend in den knospenden Gehängen.
Rötlichen Blumenscheins sein rostiges Gefieder
Zuckt' an den Schnüren und Girlanden auf und nieder.
Da rief vom Garten mit metallischem Geschrei
Ein Pfau. - Und alsobald der scheue Distelfalter
Mit Rösselsprüngen lief bergan die schwanken Stufen.
Dann hielt er auf der Lauer hinter den Platanen.
Doch als nun kein Geräusch und kein Ereignis weiter
Störte die Friedensruh, sprengt' er die sonn'gen Bahnen
Wieder herab zum Brücklein auf der Himmelsleiter.
Damals der Weltengeist, die weite Welt bereisend,
Zwar Städt' und Berg' und Täler maß sein Seherauge
Und Aller Leid empfand er in dem großen Herzen;
Doch unterm Brücklein, im bescheid'nen Straßendurchgang
Lehnt' er am Stein und schrieb es zum Vermächtnis
Des Allerseelentags ins ewige Gedächtnis.
Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 40 – 41
Distelfalter von Maria Sibylla Merian (1647 – 1717)
Das Leben eines Schmetterlings währt siebzig,
Wenn's hoch kommt, achtzig Tage.
Wohl eine kurze Frist!
Doch eine andre Summenzahl ergibt sich,
Wenn man ermißt,
Wie viel sein Leben Glück betrage.
Aufs weiche Moos im tiefen Waldesdüster
Setzt' ich den Tritt.
Da deutete die magische Lucille
"Komm' mit!"
Sie flog voran durch Felsen und durch Grotten,
Den Weg zu zeigen.
Quellen und Brünnlein hört' ich leise rauschen,
Dann schweigen.
Am Waldesspitz, am schatt'gen Buchensaum
Blinkte sie schlau
Und winkte mit den Hörnchen um die Ecke:
"Schau!"
Und wie ich folgte der geheimen Weisung,
Was sah ich dort?
Was nicht vermag zu malen und zu schreiben
Ein Menschenwort.
Unter dem Riesenkuppeldachgewölbe
Ein Säulengang
Führte durch dämmerfeierliches Dunkel
Dem Weg entlang.
Rings Bogenfenster, Nischen und Altäre,
Mit Laub bekränzt,
Umhaucht von warmem Weihrauch, und von Luftstaub
Blendend umglänzt.
Am Dach, am Fries, an den polierten Pfeilern,
Am Weggestein:
Fackeln und Feuertöpf' und Hängelampen
Mit Flammenschein.
Und siehe, aus den Nischen, aus den Krypten
Durchs Waldestor
Kamen viel himmelblaue Sonnenjungfraun
Leuchtend hervor.
In gleichem Abstand zwischen den Pilastern
Am Wegesrand
Stellten sie sich zu schimmernden Kolonnen
Im Glanzgewand.
Dann warfen sie mit schnellen Armesschwüngen
Der Gegenschar
Über den Weg die balsamduft'gen Schleier
Zum Fangen dar.
Und mit gezückten Schleierschlägen reizend
Den Schmetterling,
Riefen sie neckisch aus den blauen Augen:
"Spring!"
Und einesmals mit plötzlichem Entflammen
Schwang er sich auf
Und unterschlüpft' und übersprang die Netze
Mit jähem Lauf.
Er blitzte durch die dämmerdunklen Hallen,
Ein funkelnder Saphir;
Dann unverseh'ns erscheinend auf dem Rückweg
Kam er zu mir.
Vor Dank und Wollust lächelte sein Wesen
Selig und gut.
Dann trieb ihn wieder fort zum mut'gen Spiele
Sein edles Blut.
Doch als er siebenmal mit schnellem Schweben
Durchreist die Feuerspur,
Jauchzt' er: "Man mißt nicht unser Glück und Leben
Nach Menschenuhr.
Und wenn man fragte, welcher von uns Beiden,
Du oder ich,
Sei zu bedauern oder zu beneiden -
Sprich!"
Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 37 – 39
blauer Sonnenjungfraun von Maria Sibylla Merian (1647 – 1717)
Seidenspinner
Ich maß den Berg mit meinem Blick und sprach:
"Ich werd's erreichen!"
Dann faßt' ich einen heiligen Entschluß
niemals zu weichen.
Daß ich am Wege Leichen liegen seh',
soll mich nicht hindern.
Und weder Müh noch Not noch Mißerfolg
den Eifer mindern.
- Dornen und Spott und Haß verletzten mich
und rissen Wunden.
"Droben am Gipfel, in der Siegesluft
werd' ich gesunden."
Dummheit in eklen Haufen, dick und zäh
sperrte die Pforten.
Da wusch ich mich und öffnete mir Bahn
an reinern Orten.
Ich stürzt' am Ziel, fragt nicht, wie das geschah,
in eine Falle.
Da waren eines einz'gen Mals zerschellt
meine Hoffnungen alle.
Das Herz betrübt, der Mut geknickt, gelähmt
des Geistes Schwingen,
Und keine Willensstärke reichte mehr
den Sieg zu zwingen.
Da lag ich nun im Grab und konnte nicht
die Glieder rühren
Und ohne Schmerzen nicht mein eigen Selbst
denken und spüren.
Ob meinen Häupten sah ich schön und groß
das Leben blenden;
So weh' mir's tat, ich mochte nie davon
die Blicke wenden.
Es kroch zu mir ein Vögelein und sprach:
"Darf ich dich lieben?"
Da drückt' ich beide Augen zu und stöhnte:
"Nach Belieben."
Sie fühlt' und litt all meinen Kummer mit
tief im Gemüte,
Verzieh mir jedes, trug und duldet' es
mit Weibesgüte.
- "Wie kann ich einst, du gutes Vögelein,
dir dieses lohnen?"
Da schmeichelt' und begehrte sie:
"Allein um dich zu wohnen!"
Daß ich an ihr vorbei nach oben sah,
dient ihr zum Neide;
Und einen Namen nannt' ich oft im Traum
zu ihrem Leide.
Sie spann um mich ein feines Seidenhaus,
die Welt zu schließen
Und ohne fremde Augen mein Geseufz
auszugenießen.
Schon hatte sie mit Fleiß und viel Geduld
und Mut und Dauer
Das Haus versperrt, und blieb allein ein Spalt
im Dach der Mauer,
Da schaute sie auf meinem Angesicht
Verzweiflung stehen
Und sah mich heimlich nach dem lichten Spalt
den Hals verdrehen.
Plötzlichen Eifers eilte sie geschwind
und kurz entschlossen
Und riß mit hast'ger Arbeit wieder ein,
was sie verschlossen.
Und als nun neuerdings das böse Licht
blendete offen,
Lächelte sie mit innigem Liebesblick:
"Hab' ich's getroffen?"
Da rief ich heftig: "Komm doch einmal her!
laß dir bekennen:
Ich will mich fortan deinen schlechten Knecht,
dich meinen Engel nennen!"
Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 31 – 32
Seidenspinner von Maria Sibylla Merian (1647 – 1717)