Die Nacht

Am Himmel ist gar dunkle Nacht

Die Nacht

Am Himmel ist gar dunkle Nacht;
Die müden Augen zugemacht
Hat längst ein jedes Menschenkind;
Es wacht nur noch der rauhe Wind.
 
Der jaget sonder Rast und Ruh
Die Fensterläden auf und zu,
Die Wetterfahne hin und her,
Daß sie muß ächzen und stöhnen schwer.
 
Doch sieh! aus jenem Fenster bricht
In's Dunkel noch ein mattes Licht.
Wer ist's wohl, der in tiefer Nacht.
Bei seiner Lampe einsam wacht
 
Ich schleiche dicht an's Fensterlein,
Schau' durch die runde Scheib' hinein,
Und einen Jüngling zart und schön
Seh' ich an einem Bette stehn.

Und wie ich nach dem Bette schau',
Da schlummert eine kranke Frau.
Er bückt sich über's Bett hinein,
Es muß des Knaben Mutter sein.
 
Vom Bette läßt er nicht den Blick,
Er streicht das braune Haar zurück,
Sacht' hält er ihr das Ohr zum Mund,
Ob sie noch athme zu dieser Stund.

Friedrich Theodor Vicher

Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Schriftsteller

Wunder

Daß die lauen Abendwinde

Wunder

Daß die Lerchen wieder singen,
Daß sich Schmetterlinge schwingen,
Gelb und schwarz mit goldnem Saum,
Daß sich grüne Gräser treiben,
Auch nicht eins zurück will bleiben,
Man glaubt es kaum.
 
Daß sie bricht, die starre Binde,
Daß die lauen Abendwinde
Knospen zieh'n aus Busch und Baum,
Daß die Amsel tiefe, volle
Töne durch die Wälder rolle,
Man glaubt es kaum.
 
Daß man durch die Luft, so milde,
Kinderschaaren, liebe wilde,
Jauchzen hört im fernen Raum –
Lang im dumpfen Haus gesessen,
Aber schnelle, schnell vergessen –
Man glaubt es kaum.
 
Und es will mich immer fragen,
Mir in's Ohr ein Wörtlein sagen,
Und es ist mir wie im Traum,
Daß ich selbst vor Jahren, Jahren
Spielte mit den Kinderschaaren,
Man glaubt es kaum.

Friedrich Theodor Vicher

Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Schriftsteller

Das Kätzlein

Das Kätzlein

Zog der junge Wladislaw, zu jagen,
Einst von seiner hohen Burg herunter.
Wie er durch ein Dörflein kam gegangen,
Kam ein weißes Kätzlein, das die Hunde
Aufgescheucht, an ihm vorbeigesprungen.
Und er mochte nicht mehr jagen gehen,
Sondern mußte immer, immer horchen,
Wie es sprach in seinem lieben Herzen-
Daß ich doch dein kleines Kätzlein wäre,
Das an deinem Bette jeden Morgen
Bettelnd steht und lang nach deinen Augen,
Nach den zugeschlossenen lieben Augen,
Harrend blinzt, bis du sie aufgeschlagen.
Wie das kleine Kätzlein das ersiehet,
Schnurrt und spinnt es und die weichen Seiten
Drückt es schmeichelnd an des Bettes Pfosten.
Und du sagst dem Kätzlein guten Morgen
Und du streckst die runden weißen Arme
Aus dem Bett und nimmst die kleine Katze,
Legst sie neben dich auf's linde Kissen,
Streichelst ihr die Stirne und den Rücken.
Und das Kätzlein auf dem linden Kissen
Liegt bei deinen weißen, warmen Brüsten,
Die in sanftem Athemzug sich heben
Und sich senken, wie zwei reine Lilien
Auf des Flusses grüner Welle schwebend
Bald sich tauchen unter sanfte Wogen,
Bald erscheinen mit den süßen Kelchen.
Und das Kätzlein auf dem linden Kissen,
Und das Kätzlein, das du schwatzend streichelst,
Und das Kätzlein an den weißen Brüsten,
Die gleich Wasserlilien ruhig wogen,
Schnurrt und spinnt und drücket zu die Augen;
Daß ich doch dein kleines Kätzlein wäre!

Friedrich Theodor Vicher

Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Schriftsteller

Stille

Es schweiget Feld und See und Wald

Stille

Still, still, still!
Es schweiget Feld und See und Wald,
Kein Vogel singt, kein Fußtritt hallt;
Bald, bald
Kommt weiß und kalt
Der todte Winter
Über dich, Erde,
Und deine Kinder. 
Auch du wirst still,
Mein Herz; der Sturm, der sonst so wild
Dich rüttelt, schweigt. Ein jedes Bild
Verhüllt.
Ganz, ganz gestillt
Liegst du im Schlummer.
Es schweigt die Freude,
Es schläft der Kummer. 
Still, still, still!
Er kommt, er kommt, der stille Traum
Von einen. stillen kleinen Raum.
Kaum, kaum,
Du müder Baum,
Kannst du noch stehen.
Bald wird dich kein Auge
Mehr sehen.

Friedrich Theodor Vicher

Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Erzähler, Schriftsteller

Das grau Lied

Der Lenz ist da , do will’s ihm nicht gelingen

Das graue Lied

Warum wird mir so dumpf und düster doch,
So matt und trüb um die beengte Seele,
Wenn ich an einem grauen Nachmittag
An meinen Büchern mich vergeblich quäle, –

Wenn wie ein aschenfarbiges Gewand
Der Himmel hängt ob den verschlafnen Auen
Und weit und breit von dem geliebten Blau
Nicht eine Spur das Auge kann erschauen?

Ein Geiglein tönt aus einem fernen Haus,
Man hört es kaum, gefühlvoll thät' es gerne,
Gezognem Weinen eines Kindes gleich
Mit dünnem Klang langweilig in die Ferne.

Kein Lüftchen geht, kein Grün bedeckt die Flur,
Der Lenz ist da, doch will's ihm nicht gelingen,
Die alten Streifen winterlichen Schnee's
In Wald und Graben endlich zu bezwingen.

So öd und still! Das schwarze Vöglein nur,
Das frierend sitzt auf jenes Daches Fahnen,
Zieht langgedehnten traur'gen Laut hervor,
Als wollt' es an ein nahes Unglück mahnen.
 
Ich weiß es wohl, solch grauer Nachmittag
Ist all mein Wesen, all mein Thun und Treiben.
Nicht Wehmuth ist's, nicht Schmerz und auch
nicht Lust,
Das Wort spricht's nicht, die Feder kann's nicht schreiben.
 
Mir ist, als war' ich selber Grau in Grau,
Zu viel der Farbe scheint mir selbst das Klagen,
Ob Leben Nichts, ob Leben Etwas ist,
Wie sehr ich sinne, weiß ich nicht zu sagen.

Friedrich Theodor Vicher 

Friedrich Theodor Vicher (1807 – 1887), deutscher Philosoph, Dichter, Schriftsteller

Der Wetterhahn und die Glocken

Die Glocken auf dem Kirchturm griffen

Der Wetterhahn und die Glocken

Die Glocken auf dem Kirchturm griffen,
Des Nachts, wenn Pfarr und Glöckner schliefen,
Zuweilen einen Wetterhahn,
(Der in der Nachbarschaft, der Kirche rechter Hand,
Auf einem großen Hause stand)
Mit vielen losen Reden an.

Herr Nachbar! schrieen sie, was macht ihr? Schlaft ihr schon?
Wann kräht ihr denn einmal? Habt ihrs denn gar verschworen?
Ihr seid wohl nimmermehr der weißen Henne Sohn;
Ohn Zweifel seid ihr stumm geboren;
Ihr würdet euch wohl sonst, wenn andre Hähne krähn,
Nicht stets so maulfaul finden lassen,
Und wenigstens des Nachts die Antwort nicht verpassen.
Ihr dürft ja nur auf unser Beispiel sehn.
Wenn eine von uns klingt, gleich stimmen wir mit ein;
Man hörts auch wohl recht weit, wenn wir zusammen schrein,
Des Sonntags sonderlich, da kommt das Volk mit Haufen
Aus allen Häusern zugelaufen,
Wenn in der Kirche gleich ein Brand entstanden wär.
Zuweilen kommt ein ganzer Schwarm von Jungen,
Die unser Schall erregt, den Weg daher gesungen;
Gleich hinter diesen geht ein langer finstrer Mann,
Der gar erschrecklich trillern, kann.
Und alle Kinder überschreit;
Drauf folgt ein alter Herr, der aus Vergessenheit,
(Die ihn von ungefähr vielleicht dazu bewogen)
Das Hemde übern Rock gezogen;
Acht Männer wandern hinterher,
Die einen langen Kasten tragen,
Um welchen man ein schwarzes Tuch geschlagen;
Es muß darin was sein, sie tragen oft sehr schwer;
Drauf kommt die halbe Stadt, mit gleichgestellten Paaren,
Das Mann und Weibervolk in zwei besondern Scharen,
Die zweifelsohne, aus Furcht, es möcht ein Bad entstehn,
Gemäntelt und geschleiert gehn;
Wiewohl das können wir so eigentlich nicht wissen.
Doch weil es allemal auf unsern Ruf geschieht,
Daß Schul und Bürgerschaft so reihenweise zieht:
So scheint es, daß wir sicher Messen,
Daß man es uns zu ehren tut.

Wohl! sprach der Wetterhahn, dies alles ist schon gut,
Ich habe nichts dawider einzuwenden.
Ich will euch auch gar gern den Vorzug zugestehn;
Allein das muß mir nahe gehn,
Daß ihr, mich und mein Tun zur Ungebühr zu schänden,
Und nichts aus mir zu machen, willens seid.
Wem geht dadurch was ab, weil ich beständig schweige?
Ich bin ein Wetterhahn. Wenn ihr als Glocken schreit:
So tut ihr, was ihr sollt. Wenn ich den Wind recht zeige:
So hab ich gnug getan. Deswegen steh ich hier,
Und mehr verlangt man nicht von mir.

Wenn ich nur meiner Pflicht vollkommen Genüge tu:
So mutet mir ein Narr umsonst was anders zu.
Wenn Hans ein Seiler ist: Man sei mit ihm zufrieden,
Wenn er nur gute Stricke macht;
Fehlt ihm die Wissenschaft, das Eisen recht zu schmieden:
Wenn das der Schmied nicht weis, so wird er ausgelacht.

Daniel Stoppe (1697-1747), deutscher Schullehrer, Dichter, Schriftsteller

Der Rabe und die Taube

Der Rabe und die Taube


Ein Rabe, welcher auch als wie ein Rabe stahl,
That einst in einem Kaufmannsladen,
Als ein Ducatendieb, gewaltiggroßen Schaden.
Er war hierin sehr schlau, so daß er allemal
Den Raub so unvermerkt vollbrachte.
Daß eben niemand auf ihn dachte.
Das beste war hier noch dabey,
Er nahm sie alle ungewogen;
Er fragte keinen erst: Ob er auch wichtig sey?
Denn ausser diesem wird der Nehmer oft betrogen.
Manch gelber Ludewig, manch goldner Leopold,
Manch Joseph und manch Carl, manch Kaiser und manch König
Bereicherten sein Nest; doch das war noch zu wenig.
Der Rabe war und blieb ein rechter Narr aufs Gold;
Er wünscht es ganz allein zu haben,
Nicht, daß es ihm etwan zu etwas nütze sey;
Nein! denn er wollt es nur dort auf dem Stall ins Heu,
Wo sein Ducatenkirchhof war,
Bey jene schon verscharrte Schaar,
Aus bloßem Eigensinn, verstecken und vergraben.
O Thorheit, welche sich der Müh wohl nicht verlohnte,
Einst rief er seiner Nachbarinn,
Die nicht gar weit davon im Taubenschlage wohnte;
Komm, sagt er, schau einmal, wie reich ich itzund bin!
Was meinest du darzu? Herr Nachbar! sprach die Taube,
Wie schmecken denn die Dinger hier?
Welch weitentferntes Land bringt diese Frucht herfür?
Ists etwan eine Art von einem gelben Laube,
Das in der neuerfundnen Welt
Dem deutschen Schleedorn gleicht und rund ins Auge fällt?
Das ist mir eine fremde Sache;
Ich weis nicht, was ich daraus mache;
Das Ding muß wenigstens gar gut zu essen seyn.
Das taugt zum Essen nicht, erwiederte der Rabe.
Je nu! was nützt dirs denn? fiel jene wieder ein;
Ein Ding, von welchem ich gar keinen Nutzen habe,
Das hüb ich mir doch wohl nicht so behutsam auf.
Es scheinet, daß ich hier, sprach unser Crösus drauf,
Dem Blinden um die Farbe frage:
Man hört es wohl, dir ist kein edler Trieb bewußt;
Ist das nicht Nutzens gnug? Ich habe meine Lust,
Indem ich dieses Gold allhier zusammen trage.
Ich hätte dich gleichwohl, erwiederte die Taube,
Für klüger angesehn. Was hilft ein trockner Born?
Wen sättigt Zeuxis Bild mit der gemalten Traube?
Ich gebe dir auch nicht das kleinste Weizenkorn,
An dem ich mich mit Recht ergötze,
Für alle deine Lust, für alle deine Schätze.

Daniel Stoppe

Daniel Stoppe (1697-1747), deutscher Schullehrer, Dichter, Schriftsteller

Cantata

Hoffe nur, geplagtes Herze

CANTATA
 
ARIA.
 
Hoffe nur, geplagtes Herze!
Daß der Himmel nach dem Schmerze
Dich auch einst erfreuen kan.
Weg mit ängstlichen Geberden!
Hoffe nur und stelle dir
Gottes treue Sorgfalt für,
Diese wird ja wohl an mir
Nicht erst zum Tyrannen werden.
Wen heut das Glück verfolgt, den lacht es morgen an. Da Capo.
 
Die Hoffnung hält mich nur, sonst läg ich wirklich schon,
Ihr angenehmer Thon
Verstopft mein Ohr von jener ungereimten Melodie,
Mit der die schwermendlauten Grillen
Bey der verdrüßlichen Melancholie
So Kopf als Herze füllen.
Gesetzt mein Glücke wankt, gesetzt auch, daß es fällt,
Die Hoffnung, die mich stets mit starken Armen hält,
Entreist mich der Gefahr,
Von der ich ohne sie unmöglich zu befreyen war.
Ach! Hoffnung! ach! du läßt mich sicher stehen,
Wenn andre neben mir in der Verzweiflung untergehen.
 
ARIA.
 
Nehmt die Messer statt des Bogens,
Fiedelt euch selber die Kählen entzwey!
Der Satan giebt den Tackt, wenn die Verzweiflung musiciret,
Die nebst der Melodie das Leben rächelnde verliehret.
Ach! geigt so schön ihr wollt! ich tret euch niemahls bey,
Nehmt die Messer statt des Bogens,
Fiedelt euch selbst die Kählen entzwey!


Die Hoffnung spielt auf einem andern Thone,
Drum kriegt sie auch den Segen ganz gewiß zum Lohne.
Denn wer nur warten kan,
Trifft endlich sein Vergnügen an.
Die Ungeduld meynt zwar das Glücke zeitig zu ereilen,
Allein sie pfleget es nur desto länger zu verweilen.
 
ARIA.
 
Das Glücke kommt selten per posta, zu Pferde,
Es geht zu Fusse Schritt vor Schritt.
Sein Eigensinn ist nicht zu zwingen,Man mag auch noch so sehr nach seiner Ankunft ringen,
Es ändert darum nicht den langsamfortgesetzten Tritt.
Das Glücke kommt selten per posta, zu Pferde,
Es geht zu Fusse Schritt vor Schritt.
 
Was will ich mich vergebens grämen?
Gibt mir der Himmel nichts, so kan ich ihm nichts nehmen.
Verhängniß! ach! ich schreibe dir
Nichts für.
Vergnüge mich, wie, wenn und wo es dir gefällt!
Mein Wohlseyn bleibt in deine freye Wahl gestellt.
 
ARIA.

Mein Glücke nimmt sich Zeit. Ich laß es mir gefallen.
Es kommt nun wenn es kommt, so nehm ichs freudig an.
Kommt es nicht heute, so kommt es doch morgen.
Der Himmel wird mich doch versorgen,
Er weiß schon, daß ich warten kan.
Mein Glücke nimmt sich Zeit. Ich laß es mir gefallen.
Es kommt nun wenn es kommt, so nehm ichs freudig an.

Daniel Stopp

Daniel Stoppe (1697-1747), deutscher Schullehrer, Dichter, Schriftsteller

Dein Vergnügen trifft auch mich

Mein an dich verbundnes Herze

Dein Vergnügen trifft auch mich,
Mein an dich verbundnes Herze
Nimmt auch Teil an deinem Scherze.
Bist du doch mein andres ich
Die Zufriedenheit der Liebe,
Teilet sich in dich und du,
Denn die Stärke gleicher Triebe
Ist der Pfeiler unsrer Ruh.

Daniel Stopp

Daniel Stoppe (1697-1747), deutscher Schullehrer, Dichter, Schriftsteller

Ode an Gott

O du im Umfang unendlich

Ode an Gott

O du im Umfang unendlich,
In lebenden Wesen lebendig,
Und Ewig im Laufe der Zeiten,
Gestaltlos in drenen Gestalten
Der Gottheit, Allgegenwart, Einzig,
Ein Geist ohne Raum, ohne Ursprung,
Von Sterbllichen nimmer ergründet,
Der durch sich und mit sich erfüllet,
Umfasset, erschaffet, bewahret,
Die Welten - wir nenn ihn - Gott!

Ja könnten auch Sand oder Strahlen
Der tausend Planeten wir zählen,
Die Tiefen des Oceans messen,
Für dich weder Maas weder Zahl!
Es mögen erleuchtete Geister,
Von deinem Abglanze geboren,
Nicht deine Gerichte erforschen,
Sie heben sich kühn und zerstäuben
In deiner gewaltigen Größe,
Wie sich die Minuten verlieren
In einer Ewigkeit Meere.

Du riefst aus bodenloser Tiefe
Das ewige Chaos herauf,
hast vor der Zeiten Geburt
In dir das Ew'ge gegründet;
Du bist und glänzest durch dich!
Aus dir, du Quelle des Lichtes,
Ist Licht hernieder geflossen,
Ein Wort hat Alles belebet,
Erschaffen - du warst, du bist,
Du wirst sein ewig und ewig!

Du fassest die Kette der Wesen,
Du schenkest ihr Leben, Erhaltung,
DU, der du Anfang und Ende,
Den Tod mit dem Leben verbindest.
Wie sprühende Funken schnell eilen,
So gibst du den Sonnen ihr Dasein;
Am heitern Tage des Winters,
Wie Stäubchen des Reifes dann blinken,
Sich drehen und wimmeln und glänzen,
So siehst du die Sterne im Abgrund.

Millionen brennende Lichter,
Im leere Raume schwimmend,
Befolgen die ew'gen Gesetze,
Ergießen lebendige Strahlen;
Doch diese feurigen Lampgen,
Die Menge der roten Ernstallen
Die goldenen kochenden Wellen,
Die ewig brennenden Sternen,
Und alle die leuchtenden Welten,
Sind dir wie Nacht vor dem Tage.
Und hundertfältig gehäufet,
Sie sind gegen dich nur ein Punkt,
Und ich vor dir - ein Nichts.

Ein Nichts - doch bin ich dein Abglanz,
Es schimmert in mir deine Güte,
Ich trage dein Bild wie ein Tropfen
Des Wassers das Bildnis der Sonne.
Ein Nichts - doch fühl' ich mein Leben,
Ich fliege mit rastloser Gierde,
Noch höher und höher stets schwebend,
Es glaubt meine Seele: du bist,
Sie denket, begreifet, erwäget,
Ich bin - du bist ohne Zweifel!

Du bist - so sagt die Natur,
Du bist - so fühlet mein Herz,
Du bist - ruft mein Verstand,
Du bist - drum bin ich kein Nichts!
Auch ich bin ein Teilchen des Weltalls
Bin, wähne ich, in der Natur.
Ehrwürdige Mitte gestället,
hier an der Körperwelt Ende,
Am Anfang der himmlischen Geister,
Ich binde die Kette der Wesen.

Ja, ich das Band dieser Kette,
Die äußerste Stufe der Wesen,
Bin in der Lebenden Mitte
Ein Anfangsbuchstange der Gottheit!
Mein Körper verweset zu Staube,
Mein Geist herrscht über die Donner,
Ich bin ein König - ein Knecht -
Ich bin ein Wurm - ein Gott!
Verborgen ist mir mein Ursprung,
Doch ward ich nicht aus mir selbst.

Nein, Schöpfer, ich bin dein Geschöpf,
Bin ein Geschöpf deiner Weisheit,
Du Lebensquell, Geber  des Guten,
Du meiner Seele Geist und Herr!
Deiner Allmacht schien es notwendig,
Daß mein unsterbliches Wesen
Des Todes Abgrund durchwandre,
Mein Geist sich in Sterblichkeit kleide,
Und, Vater! im Dunkel des Stabes,
Unsterblich sich wiederfinde.

Unbegreiflicher! Unergründlicher!
Warum ist die Seele zu schwach,
Von deinem erhabenen Bilde
Auch nur den Schatten zu zeichnen;
Doch ist es den schwachen Geschöpfen
Dich, Gott, zu preisen vergönnet,
Wie können sie besser dich ehren,
Als sich erhebend zu dir,
Im Unermeßlichen sich verlierend,
Dankbare Tränen vergießen!

G. R. Deržavin

Gavriil Romanovič Deržavin (1743 – 1816), russischer Dichter, Autor, Staatsmann, Schriftsteller. Bekannt für seine lange Oden

Leider sind die russischen Webseiten zur Zeit kaum zu erreichen und sehr unsicher. Sobald sich die Lage nicht ändert, kann ich nicht das Original auf russisch auf meine Webseite zeigen.