Herbst

Der erschöpfte Herbst, den jetzt nicht einmal ein seltener Sonnentag wieder erwärmt

Der erschöpfte Herbst, den jetzt nicht einmal ein seltener Sonnentag wiedererwärmt, verliert nach und nach seine letzten Farben. Ausgelöscht ist die intensivste Glut seines Laubwerks, das so in Flammen stand, daß man nachmittags und morgens die glorreiche Illusion eines Sonnenuntergangs haben konnte. Als die letzten leuchten noch die Dahlien, die indischen Nelken, die malvenfarbenen, violetten, gelben, weißen und rosenfarbenen Chrysanthemen hier auf dem dunklen, trostlosen Untergrund des Herbstes.

Marcel Proust

Valentin Louis Georges Eugène Marcel Proust (1871 – 1922), Schriftsteller, Essayist, Literaturkritiker

Sehnsucht

Da mein Sinn so zu dir steht

Sehnsucht

Warum Schmachten?
Warum Sehnen?
Alle Tränen
Ach! sie trachten
Weit nach Ferne,
Wo sie wähnen
Schönre Sterne.
Leise Lüfte
Wehen linde,
Durch die Klüfte
Blumendüfte,
Gesang im Winde.
Geisterscherzen,
Leichte Herzen!
Ach! ach! wie sehnt sich für und für
O fremdes Land, mein Herz nach dir!
Werd' ich nie dir näher kommen,
Da mein Sinn so zu dir steht?
Kömmt kein Schifflein angeschwommen,
Das dann unter Segel geht?
Unentdeckte ferne Lande, –
Ach mich halten ernste Bande,
Nur wenn Träume um mich dämmern,
Seh' ich deine Ufer schimmern,
Seh' von dorther mir was winken, –
Ist es Freund, ist' s Menschgestalt?
Schnell muß alles untersinken,
Rückwärts hält mich die Gewalt. –
Warum Schmachten?
Warum Sehnen?
Alle Tränen
Ach! sie trachetn
Nach der Ferne,
Wo sie wähnen
Schönre Sterne. – -

Ludwig Tieck

Ludwig Tieck (1773 – 1853), deutscher Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Herausgeber

Herbstlied

Feldeinwärts flog ein Vögelein

Herbstlied

Feldeinwärts flog ein Vögelein,
Und sang im muntern Sonnenschein
Mit süßem wunderbarem Ton:
Ade! ich fliege nun davon,
Weit! weit!
Reis' ich noch heut.
Ich horchte auf den Feldgesang,
Mir ward so wohl und doch so bang;
Mit frohem Schmerz, mit trüber Lust
Stieg wechselnd bald und sank die Brust:
Herz! Herz!
Brichst du vor Wonn' oder Schmerz?
Doch als ich Blätter fallen sah,
Da sagt ich: Ach! der Herbst ist da,
Der Sommergast, die Schwalbe, zieht,
Vielleicht so Lieb und Sehnsucht flieht,
Weit! weit!
Rasch mit der Zeit.
Doch rückwärts kam der Sonnenschein,
Dicht zu mir drauf das Vögelein,
Es sah mein tränend Angesicht
Und sang: die Liebe wintert nicht,
Nein! nein!
Ist und bleibt Frühlingesschein.

Ludwig Tieck

Ludwig Tieck (1773 – 1853), deutscher Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Herausgeber

Dichtkunst

Durch Himmelsplan die roten Wolken ziehen

Dichtkunst

Durch Himmelsplan die roten Wolken ziehen,
Beglänzet von der Sonne Abendstrahlen,
Jetzt sieht man sie in hellem Feuer glühen,
Und wie sie sich in seltsam Bildnis mahlen:
So oftmals Helden, große Thaten blühen,
Aufsteigend aus der Zeiten goldnen Schaalen,
Doch wie sie noch die Welt am schönsten schmücken,
Fliehn sie wie Wolken und ein schnell Entzücken.
Was dieser fliehnde Schimmer will bedeuten,
Die Bildnis, die sich durch einander jagen,
Die Glanzgestalten, die so furchtbar schreiten,
Kann nur der Dichter offenbarend sagen;
Es wechseln die Gestalten wie die Zeiten,
Sind sie euch Rätsel, müßt ihr ihn nur fragen,
Ewig bleibt stehn in seinem Lied gedichtet,
Was die Natur schafft und im Rausch vernichtet.
Es wohnt in ihr nur dieser ewge Wille
Zu wechseln mit Gebären und Erzeugen,
Vom Chaos zieht sie ab die dunkle Hülle,
Die Tön' erweckt sie aus dem todten Schweigen,
Ein Lebensquell regt sich die alte Stille,
In der Gebilde auf und nieder steigen,
Nur Phantasie schaut in das ewge Weben,
Wie aus dem Tod' erblüht verjüngtes Leben

Ludwig Tieck

Ludwig Tieck (1773 – 1853), deutscher Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Herausgeber

Lied vom Reisen

Willst du dich zur Reis‘ bequemen

Lied vom Reisen

Willt du dich zur Reis' bequemen
Über Feld
Berg und Tal
Durch die Welt,
Fremde Städte allzumal,
Mußt Gesundheit mit dir nehmen.

Neue Freunde aufzufinden
Läßt die alten du dahinten,
Früh am Morgen bist du wach,
Mancher sieht dem Wandrer nach
Weint dahinten,
Kann die Freud' nicht wiederfinden.

Eltern, Schwester, Bruder, Freund,
Auch vielleicht das Liebchen weint;
Laß sie weinen, traurig und froh
Wechselt das Leben bald so bald so
Nimmer ohne Ach! und O!
Heimat bleibt dir treu und bieder,
Kehrst du nur als Treuer wieder,
Reisen und Scheiden
Bringt des Wiedersehens Freuden.

Ludwig Tieck

Ludwig Tieck (1773 – 1853), deutscher Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Herausgeber

Das Äußere ist festgehalten

Aber das ist nicht der Punkt

A l’extérieur, retendue, la figure, la solidité; à l’intérieur, le plaisir, la peine, la pensée, la volonté, l’activité.

Mais ce n’est point là que s’arrête sa conviction ; elle pénètre plus aVant.

Das Äußere ist festgehalten, die Gestalt, die Festigkeit; das Innere ist Freude, Schmerz, Denken, Wille, Aktivität.

Aber das ist nicht der Punkt, an dem seine Überzeugung endet; Sie dringt weiter vor.

Théodore Simon Jouffroy

Simon Joseph Théodore Jouffroy (1796 – 1842), französischer Philosoph, Publizist

menschliche Wahrheit

Die Behauptung einer höheren Wahrheit ist die Behauptung

Prétendre à une vérité supérieure , c’est prétendre à l’impossible : car l’iiitelligence ne peut pas cesser d’être ce qu’elle est, pour juger ce que serait la vérité après cette transformation.

Il n’y a pas d’autre vérité pour l’homme que la vérité humaine ; c’est la seule qu’il lui soit donné d’atteindre.

Die Behauptung einer höheren Wahrheit ist die Behauptung des Unmöglichen: denn die Intelligenz kann nicht aufhören, das zu sein, was sie ist, um zu beurteilen, was die Wahrheit nach dieser Umwandlung wäre.

Es gibt keine andere Wahrheit für den Menschen als die menschliche Wahrheit; sie ist die einzige, die zu erreichen ihm gegeben ist.

Théodore Simon Jouffroy

Simon Joseph Théodore Jouffroy (1796 – 1842), französischer Philosoph, Publizist

Träume nicht immer nur Schäume

Ich wünsche dir

Träume nicht immer nur Schäume. Ich wünsche dir , dass der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit täglich kleiner wird.

Das Träumen ist der Sonntag des Denkens.

Henri-Frédéric Amiel

Henri-Frédéric Amiel (1821 – 1881) Schweizer Schriftsteller, Philosoph, Essayist und Lyriker

Elegie

Nicht des Seins und nicht des Werdens

Elegie

Wehe! Wehe diesen Zeiten!
Nicht des Seins und nicht des Werdens
Zarte Frühlingskraft durchwärmt sie:
Zur des Lichts Sumpfblumen blühen.

Denn im Hohn der Gegensätze
Fehlt der Balsam der Vermittlung,
Und an dialekt'schem Krampfe
Kranket jetzt das Universum.

Statt mit vollem Zug zu schlürfen
Von des absoluten Äther,
Drohn im primitiven Urschlamm
Die Subjekte zu versinken.

Und ob sie das Objektive
Auch mit Kraft und Spat zerhacken:
Keinem neigt die Wünschelrute
Zu dem Erz sich des Begriffes.

An der Zukunft Horizont drum
Glühn nur wilddramat'sche Flammen,
Denn in Kirche, Staat und Leben
Ist das Ethos jäh verduftet.
- Dies erwägende lenkt der Denker
Seine Schritte stumm zur Schenke,
Und er trinkt im trüben Pathos
Ob der Zeit chaot'schem Wimmeln.

Und begrifflich säuft er weiter,
Und wenn er im schiefen Gang dann
Basislos und krumm herumwankt,
Spiegelt sich in ihm das Weltall!
Joseph Victor von Scheffel 

Joseph Victor von Scheffel (1826 – 1886), Joseph Victor Scheffel, ab 1876 von Scheffel, deutscher Schriftsteller und Dichter

Guano

Die Vögel sind all‘ Philosophen

Guano

Ich weiß eine friedliche Stelle
Im schweigenden Ozean,
Kristallhell schäumet die Welle
Am Felsengestade hinan.
Im Hafen erblickst du kein Segel,
Keines Menschen Fußtritt am Strand;
Viel tausend reinliche Vögel
Hüten das einsame Land.

Sie sitzen in frommer Beschauung,
Kein einz'ger versäumt seine Pflicht,
Gesegnet ist ihre Verdauung
Und flüssig als wie ein Gedicht.
Die Vögel sind all' Philosophen,
Ihr oberster Grundsatz gebeut:
»Den Leib halt' allezeit offen
Und alles andre gedeiht.«

Was die Väter geräuschlos begonnen,
Die Enkel vollenden das Werk;
Geläutert von tropischen Sonnen,
Schon türmt es empor sich zum Berg.
Sie sehen im rosigsten Lichte
Die Zukunft und sprechen in Ruh':
"Wir bauen im Lauf der Geschichte
Noch den ganzen Ozean zu."

Und die Anerkennung der Besten
Fehlt ihren Bestrebungen nicht,
Denn fern im schwäbischen Westen
Der Böblinger Repsbauer spricht:
"Gott segn' euch, ihr trefflichen Vögel,
An der fernen Guanoküst', –
Trotz meinem Landsmann, dem Hegel,
Schafft ihr den gediegensten Mist!"

Joseph Victor von Scheffel

Joseph Victor von Scheffel (1826 – 1886), Joseph Victor Scheffel, ab 1876 von Scheffel, deutscher Schriftsteller und Dichter