Schulschlange

Im Pausengange

Schulschlange

Im Pausengange
Paar auf Paar,
Die Mädchenschar,
Die umschlingen
Mit bunten Ringen,
Die zerdrücken
Die starken Rücken
Der Männer wird.

Peter Hille

Peter Hille (1854 – 1904), deutscher Schriftsteller

Ode an die Lerche

In holden Liebessang, berauscht von Lust und leid

Ode an die Lerche

Heil dir, Geist der Lieder!
Vogel bist du nicht,
Der vom Himmel nieder
Aus dem Herzen schlicht
Mit ungelernter Kunst in muntern Weisen spricht.

Feuerwolken gleich,
Hoch und höher schwingest
In der Lüste Reich
Du dich auf, und klingest,
Und singend steigst du stets, wie steigend stets du singest.

In der Abendsonne
Goldner Strahlenpracht
Schwebst du voller Wonne
Hin und wieder sacht,
Gleich körperloser Lust, die lind das Herz entfacht.

In die Purpurwellen
Tauchst du sanft hinein; –
Gleich dem Stern beim hellen,
Klaren Tagesschein,
Sieht man dich nicht, doch hör' ich deineMelodein.

Wie der Silbersterne
Strahlenschimmer sprüht,
Dessen Licht, das ferne,
Morgens schnell verglüht,
Und doch fortleuchtet, ob der Blick es kaum mehr sieht.

Deiner Lieder Reigen
Erd' und Luft durchschwillt,
Wie in nächt'gem Schweigen
Einer Wolke mild
Des Mondes Licht, das rings den Himmel hellt,entquillt.

Aehnlich dir an Segen
Nichts die Welt umschließt.
Nie so goldner Regen
Bunter Wolk' entfließt,
Wie deiner Lieder Fluth harmonisch sich ergießt.

Wie ein Dichter, singend,
Was sein Herz empfand,
Jede Brust bezwingend,
Bis die Welt entbrannt
In Furcht und Hoffnung, die sie früher nicht gekannt;

Wie auf stolzer Zinne
Eine Edelmaid,
Die von süßer Minne
Singt bei nächt'ger Zeit
In holdem Liebessang, berauscht von Lust und
Leid;

Wie im abendfeuchten
Thal des Glühwurms Licht,
Deß ätherisch Leuchten
Durch die Gräser bricht,Doch siehst das Thierchen du vor Blüth' und Blättern nicht;

Wie die Ros' in Lüften
Wiegt ihr Blumenhaupt,
Bis der West in Düften
Ihr den Kelch zerklaubt,
Daß trunken wird der Dieb, der ihr den Honig raubt.

Frühlingsregens Fließen
Auf dem grünen Hang,
Thaufall auf den Wiesen,
Nichts die Welt entlang,
Das frisch und fröhlich ist, gleicht deinem hellen Sang.

Dein Empfinden lehr uns,
Vogel oder Geist!
Nie ein Lied so hehr uns
Wein und Liebe preist,
Wie deins im Götterrausch die Seele aufwärts reißt.

Bräutliche Gesänge,
Siegesliederklang
Sind nur hohle Klänge
Gegen deinen Sang –
Ein fehlend Etwas spürt der Geist in ihnen bang.

Ach, was mag die Quelle
Deiner Lieder sein?
Anger, Berg und Welle?
Wolkenflucht und Hain?
Der Liebesinbrunst Macht? Unkenntniß aller Pein?

Nie verzehrt Ermatten
Deine frohe Brust,
Dumpfen Ekels Schatten
Trübt dir nie die Lust;
Du liebst, doch ist dir nie der Liebe Leid bewußt.

Dir in Schlaf und Wachen
Muß des Todes Welt
Lichterfüllter lachen,
Als sie uns sich hellt –
Wie tönte sonst dein Lied so rein vom Himmelszelt?

Uns zerquält das Morgen
Oder Gestern heut,
Uns wird, ach! durch Sorgen
Jede Lust entweiht,
Und unser schönstes Lied, es spricht von tiefstem
Leid.

Doch wenn fremd uns wären
Furcht und Stolz und Haß;
Würde nie von Zähren
Uns das Auge naß,
So ließ' uns deine Lust wohl kalt ohn' Unterlaß.

Besser als geschraubter
Melodien Brunst,
Besser als verstaubter
Bücher Weisheitsdunst,
Du Erdverächter, wär' dem Dichter deine Kunst.

Halb nur deine Lust
Wolle mit mir tauschen: –
Dann aus meiner Brust
Sollt' ein Lied entrauschen,
Dem würde, wie ich dir gelauscht, die Erde lauschen.

Percy Bysshe Shelley

Percy Bysshe Shelley (1792 – 1822), britischer Schriftsteller, Dichter

Ode an die Freiheitskämpfer

Erwachet! Erwachet! Erwachet!

Ode an die Freiheitskämpfer

Auf! auf! auf!
Blut dampft von der Erde, die Brot euch versagt.
Um die Todten, die sanken zuhauf,
Sei aus strömenden Wunden ein Grablied geklagt.
Keine andere Trauer sei ihnen gebracht!
Sohn, Bruder und Gattin sind niedergemacht;
Wer sagt, daß sie fielen in ehrlicher Schlacht?

Erwacht! erwacht! erwacht!
Seit je befeinden Tyrann sich und Knecht.
Werft nieder die Ketten mit Macht
In den Staub, daß den Tod ihr der Brüder rächt!
Im Grabe wird regen sich ihr Gebein,
Wenn die Stimmen der Lieben im blutigen Schein
Des heiligen Kampfes um Rache schrein.

Hoch laßt das Banner wehn,
Wenn die Freiheit ladet zu Sieg und Tod,
Ob als Sklaven auch um sie stehn
Hunger und Elend und seufzende Noth.
Und ihr, die geschaart um ihr herrlich Gefährt,
Zückt nicht zuerst das mordende Schwert,
Doch die Mutter zu schützen, seidmannlichbewehrt!

Heil, Heil, Heil
Denen, die litten und Großes vollbracht!
Keinem wurde zu Theil
Größerer Ruhm, als der euch umlacht.
Den Feind nur haben Erobrer bekriegt,
Dessen Stolz nun gebändigt zu Boden liegt: –
Ihr habt, siegreicher, euch selbst besiegt.

Kränzt, kränzt eure Stirn
Mit Veilchen, Epheu und Tannengrün;
Bedeckt das blutige Hirn
Mit Farben, wie göttlich im Lenz sie glühn:
Grüne Kraft, blaue Hoffnung und Ewigkeit,
Doch Vergißmeinnichtblümchen verbannet weit,
Bewahrt das Gedenken an euer Leid!

Percy Bysshe Shelley

Percy Bysshe Shelley (1792 – 1822), britischer Schriftsteller, Dichter

Philosophie der Liebe

Quelle eint sich mit dem Strome

Philosophie der Liebe

Quelle eint sich mit dem Strome,
Daß der Strom ins Meer vertauche;
Wind und Wind am blauen Dome
Mischen sich mit sanftem Hauche.
Nichts auf weiter Welt ist einsam,
Jedes folgt und weiht sich hier
Einem Andern allgemeinsam -
Warum denn nicht wir?

Sieh den Berg gen Himmel streben,
Well' in Welle sieh zerfließen;
Keiner Blume wird vergeben,
Wollte sie den Kelch verschließen.
Und der Himmel küßt die Erd',
Und das Mondenlicht den Fluß -
Was sind all' die Küsse werth,
Weigerst du den Kuß? 

Percy Bysshe Shelley

Percy Bysshe Shelley (1792 – 1822), britischer Schriftsteller, Dichter

Der See

Und mystisch durch die Wellen strich

Der See

In meinen jungen Jahren trieb
Mich Sehnsucht oft an einen Ort,
Der mich gebannt hielt wie ein Hort.
So war die Einsamkeit mir lieb
Von einem See, um dessen Rand
Ein schwarzes Felsgemäuer stand.

Doch wenn die Nacht ihr Bahrtuch warf
Auf diese Stelle und auf mich,
Und mystisch durch die Wellen strich
Der Wind, bald klagend und bald scharf,
Dann – ja – erschreckte mich oft jäh
Die Einsamkeit am dunklen See.

Doch dieser Schrecken war nicht Grau'n;
Nein, eine Lust, die Schauer barg,
So zitternd und dämonisch stark,
Wie sie in unterirdischen Gau'n
Der spüren mag, der einen Schein
Erhascht von flimmerndem Gestein.

Tod war um jenen giftigen Strand –
Und in der Flut ein Grab für ihn,
Der dort für seine Phantasien
Besänftigende Tröstung fand
Und den sein Träumen wandeln hieß
Das finstre Reich zum Paradies.

Edgar Allan Poe

Edgar Allan Poe (1809 – 1849) US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter

Das ruhelose Thal

Schimmern die Tränen wie Juwelen

Das ruhelose Thal

Einst lächelte ein friedliches Thal,
Aus welchem die Leute allzumal
Gezogen waren in stürmische Fernen,
Nachdem sie zu den gütigen Sternen

Gefleht, von ihren azurnen Thürmen

Die Blumen im Thal zu pflegen, zu schirmen,
In deren Mitte den ganzen Tag
Das rothe Sonnenlicht träge lag.
Jetzt raschelt es durch den seltsamen Ort

Ruhlos, rastlos in einem fort.

Alles zittert und schauert, blos
Die Lüfte sind ganz bewegungslos.
Ach, von keinem Winde geschaukelt,
Nicht vom leisesten Zephyr umgaukelt,

Zucken die Bäume gleich den Fjorden

Im umnebelten felsigen Norden.
Ach, von keinem Winde getrieben,
Jagen die Wolken und zerstieben
Ueber den Veilchen, die dort liegen,

Ueber den Lilien, die sich dort wiegen,

Die sich wiegen und neigen und schauern,
Ueber mystischen Gräbern trauern.
Sie schauern: ihre duftenden Seelen
Zittern in immer währendem Leide.

Sie weinen: auf ihrem weißen Kleide

Schimmern die Thränen wie Juwelen.

Edgar Allan Poe

Edgar Allan Poe (1809 – 1849) US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter

Die Stadt im Meer

Aber siehe da, ein Aufsehen in der Luft

Die Stadt im Meer

Lo! Der Tod hat sich selbst einen Thron geerdet
In einer fremden Stadt liegend
Weit unten im trüben Westen,
Wo die Guten und die Schlechten und die Schlechtesten und die Besten
Sind sie in ihre ewige Ruhe gegangen.
Dort Schreine und Paläste und Türme
(Zeitfressende Türme und zittern nicht!)
Erähne nichts, was uns gehört.
Umherzuheben, indem man die Winde vergaß,
Unter dem Himmel ausgetreten
Das melancholische Wasser liegt.

Keine Strahlen vom heiligen Himmel kommen herab
In der langen Nacht dieser Stadt;
Aber Licht aus dem reißerischen Meer
Die Türme leise strömt
Gleams die Gipfel weit und frei
Up domes-up spires - up kingly halls
Up fanes - up Babylon-ähnliche Wände
Auf schattenhafte längst vergessenen Bowers
Von skulpturalen Efeu und Steinblumen
Viele und viele ein herrlicher Schrein
Deren gekleidete Frieszes intertwine
Die Brühe, das Veilchen und die Rebe.
Unter dem Himmel ausgetreten
Das melancholische Wasser liegt.
So mischen Sie die Türme und Schatten dort
Das alles scheint in der Luft steckend zu sein,
Aus einem stolzen Turm in der Stadt
Der Tod sieht gigantisch niedergeschlagen aus.

Es öffnen Sie Ventilatoren und klaffende Gräber
Gähne mit den leuchtenden Wellen;
Aber nicht der Reichtum, der da lügen
In jedem Idol diamant eye
Nicht der Täglich-Jewelled-Tod
Das Wasser aus dem Bett stoßen;
Für keine Wellenkräuselung, leider!
Entlang dieser Wildnis des Glases
Keine Schwellungen sagen, dass Winde sein können
Bei einem fernen, glücklicheren Meer
Kein Hebeweis deutet an, dass Winde waren
Auf den Meeren weniger scheußlich heiter.

Aber siehe da, ein Aufsehen in der Luft!
Die Welle – da ist eine Bewegung!
Als hätten die Türme beiseite gestoßen,
Im leicht sinkenden Blatt
Als ob ihre Tops schwach gegeben hätten
Eine Leere im filmischen Himmel.
Die Wellen haben jetzt ein röteres Glow
Die Stunden atmen schwach und niedrig
Und wenn in keinem lauen Stöhnen,
Unten, unten soll sich die Stadt also anlegen,
Die Hölle, die von tausend Thronen erhebt,
Soll es Ehrfurcht tun.

Edgar Allan Poe

Edgar Allan Poe (1809 – 1849) US-amerikanischer Schriftsteller, Dichter

Sehnsucht

Sonnenblitze schimmern und die Stimmen

Sehnsucht

Niemals hab ich Liebeslust empfunden
In den raschen, mauerschwülen Stunden! –
Hier im alten Parke, wo nur noch verspätet

Sonnenblitze schimmern und die Stimmen
Müde in die Dunkelheit verschwimmen,
Möcht' ich lieben, wenn der Abend leise betet. –

Treten möcht' ich durch die offne Pforte
Und im Dämmer einer Liebsten Worte
Flüstern, bis Gewährung ihre Wangen rötet,

Dort, wo hinter goldumglänzten Gittern
Rote Rosen in Erwartung zittern
vor dem Herbst, der sie in seinem Arme tötet . . .

Stefan Zweig


Stefan Zweig (1881 – 1942), österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Pazisfist

Tag und Nacht

Und wieder klag die leise Stimme mir

Tag und Nacht

Es sprach der junge Tag in meinen Traum:

»Wach auf! Sieh! Meines Mantels goldner Saum
Ist über dunkle Dächer ausgegossen,
Und tausend Ströme sind geflossen
Und wurden Morgenlicht und heller Tag.
Nur Du noch ruhst im Traumeshag
Wo alle Wünsche wie lebendig scheinen
Und sich zu wechselbunten Spiele einen. –
Blick auf! Hörst Du aus fernen Dämmern
Den Rythmus der Arbeit mit ehernen Hämmern
Wach auf! – Aus allen Poren bricht das Weltgetriebe,
Kein Glied, das ohne Kraft und Schaffen bliebe
Und jedes schmiegt sich wieder sorgsam ein
In meiner Lande unbegrenzte Reihn
Und keiner ruht. – Nur Du allein!« –

Und tiefer kroch das Leuchten an der Wand.
Auf meinen Augen lag's, wie eine heiße Hand

Und schnell war Lid und Wimper offen
Von goldner Flut des frohen Lichts getroffen.

Und wieder klang die leise Stimme mir:

»Mit erlesenen Gaben komm ich zu Dir.
Mein Kleid ist weit. Doch seine tausend Falten
Vermöchten nicht der Gaben reiche Zahl enthalten,
Die meine Arme Dir entgegenbreiten.
Ich bringe Dir Ehre und Glück aus den Weiten
Ich habe Dir alle Wege geweitet,
Drauf purpurne Rosen und Blüten gebreitet,
Was Deine Gedanken nur betend erwähnt,
Was Deine Wünsche mir Thränen ersehnt,
Was kaum Du erhofft in schüchternem Denken,
Das will ich Dir heute, heute noch schenken.
Ich will Dir den ungeborenen Willen
In leuchtenden Farben zur Wahrheit erfüllen
Und für das Leid aus fernen, schweren Tagen
Werd' ich Dir wunderweiche Worte sagen,
Und Glück und Sorge, was Dich nur umflicht,
Dir wird es wesenlos und lebt nur im Gedicht. –
Ich mache Dir zaubergewaltig den Arm
Ich führe Dich weg von dem neidischen Schwarm,
Der jedes Streben sinnberauscht verlacht.
Ich nehm Dir alles, was Dich ihnen ähnlich macht.«

So sprach der Tag. Ich aber horchte fort
Und schlürfte gierig Wort für Wort.

»Doch geb' ich nicht die überreiche Spende
In schlummermüde, arbeitsträge Hände
Und werfe Dir nicht die Gaben dahin. –
Steh' auf und sieh sie im Leben erblühn!
Ich bin der Tag und bin dem Leben gleich
Erfüllung harrt für jeden Wunsch in meinem Reich,
Nicht wirst Du bittend meine Gunst erringen
Nein! Wie ein Weib mußt Du mich zwingen,
Das nicht für weiche Worte seine Gaben giebt
Und nur die Kraft, den starken Willen liebt,
Der sie mit seiner Wucht errungen.«

So sprach der Tag mit leisen, weisen Zungen
Und flammte heiß mit grellen, gelben Lichtern,
Und still ward da mein Herz und schüchtern
Bei dieser Worte wahrheitsschweren Klang
Allein der Tag fuhr fort und sang:

»Doch hat Dich das Schaffen dann müde gemacht,
Führ' ich Dich neu in die Arme der Nacht.
Durch des Abends blütenrote stille Weiten
Will ich Dich zum Traume heimgeleiten;
Diesem schenkst Du, was ich Dir errungen,
Glück und Glanz und echte, große Lieder
Und er giebt es tausendfach Dir wieder
Durch der Traumessänge seligsüße Weise.
Und so dreht sich Tag und Nacht im Kreise
Bist Du bei mir stark und stolz geworden,

Löst die Nacht mit ihres Lieds Accorden
Wieder Deine Einsamkeit und Eigensucht
Und des steten Wechsels reiche Frucht
Ist: Daß Du des Nachts die Seele sehnend weitest
Und des Tags zur That Dich froh bereitest.
Doch nun laß des Morgendämmerns bleiche
Traumesgärten! Auf! Zieh ein in meine Reiche.«

Und es wuchs in mir ein frohes, heißes Beben
Ich sprang auf, hinein ins volle Leben! 

Stefan Zweig

Stefan Zweig (1881 – 1942), österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Pazisfist

Einsamkeit

Frohen Herzens bin ich in die Welt gegangen

Einsamkeit

Frohen Herzens bin ich in die Welt gegangen
Und voll Sonne war mein junger Blick,
Doch nun kehrt' ich mit verhärmten Wangen
Wieder zu der Einsamkeit zurück.

Und ich sehe wunschbefreit und weise
In das bunte Schicksalseinerlei,
Kaum verspür ich's noch, so leise, leise
Rinnt an mir die Jugendzeit vorbei.

Immer werden meine Blicke weiter,
Selig halt' ich eine Welt umspannt,
Denn ich blicke froh und wissensheiter
In des Lebens unbegrenztes Land.

Hieher dröhnt kein Wächterschritt der Stunden,
Unbemerkt verbraust mein herbes Leid,
Langsam narben meine tiefen Wunden
Von der weichen Hand der Einsamkeit.

Meiner Seele nahm ich dumpfe Riegel,
Und geöffnet prangt der Wunderschrein,
Ewig lernend blick' ich in den Spiegel
Meiner eignen neuen Welt hinein.

Was sich dort im Leben ohne Ende
Streitet, blendet, schlägt und überschreit
Liegt hier, Farben, Töne, wie in Bände,
Meinem Willen nach, geformt, gereiht.

Jedes Wesen fürchtet meinen Willen
Hier im engen – unbegrenzten Raum
Jede Sehnsucht weiß ich zu erfüllen. –
Wirklichkeit entblüht dem Dichtertraum.

Und wenn heimlich dann an manchen Tagen
Meine Sehnsucht hin zum Leben zieht
Brauch ich dieses Buch nur aufzuschlagen
Und die Seele schaut und wird nicht müd . . .

Stefan Zweig

Stefan Zweig (1881 – 1942), österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Pazisfist