Die Gelegenheit
Vordem kam die Gelegenheit,
Ehr und Reichtum zu erlangen,
zu einem Mann aufs Land gegangen.
„Hans“, rief sie, „komm, geh mit!“
Hans sprach: „Um welche Zeit?“
„Gleich, gleich den Augenblick.“
„So hurtig und wohin?“
„Komm mit, du wirst’s schon sehn.“
„Je nun, so warte doch
zum wenigsten so lange noch
mit der mir zugedachten Gabe,
bis ich mir, weil ich barfuß bin,
die Stiefel angezogen habe.“
Der Bauer dachte nicht, daß die Gelegenheit
in einer oft noch kürzern Zeit
sich einem aus den Händen schwinge,
und oft gar schnell verlorenginge.
Er zog die Stiefel an und rief nach seinem Weibe,
das noch im Bette lag. „Hör“, sprach er,
„lieber Schatz,
räum alle Kasten aus und mach indessen Platz,
damit ich, wenn ich ja bis mittags außenbliebe,
bei meiner Wiederkunft als ein beglückter Mann,
das mitgebrachte Geld darin versperren kann.“
Er lief und öffnete sein Haus im Verlangen;
doch als er vor der Türe kam,
war die Gelegenheit, zu seinem großen Gram,
schon weg und wieder fortgegangen.
Er lief, jedoch umsonst, sein Weib kam auch herbei
und unterstützte sein Geschrei.
Sie liefen hinters Haus, durchsuchten Stall und Scheune,
besahen auch sogar die Herberge der Schweine,
ob die Gelegenheit sich etwa hier versteckt;
jedoch mit aller Mühe ward nirgends nichts entdeckt. –
Der Bauer setzte sich vor seiner Türe nieder
und schwor hinkünftig hurtiger zu sein.
Allein was half ihm dies? Sein Hoffen traf nicht ein,
denn die Gelegenheit kam niemals wieder.
Daniel Stoppe
Daniel Stoppe (1697 – 1747) deutscher Schullehrer, schlesischer Dichter
Gedicht aus: Neue Fabeln oder moralische Gedichte: der Jugend zu einem nützlichen Zeitvertreib; Breßlau, Verlger und Druck Johann Jacob Korn, 1740, Zweiter Teil