Das Leben eines Schmetterlings währt siebzig, Wenn's hoch kommt, achtzig Tage. Wohl eine kurze Frist! Doch eine andre Summenzahl ergibt sich, Wenn man ermißt, Wie viel sein Leben Glück betrage. Aufs weiche Moos im tiefen Waldesdüster Setzt' ich den Tritt. Da deutete die magische Lucille "Komm' mit!" Sie flog voran durch Felsen und durch Grotten, Den Weg zu zeigen. Quellen und Brünnlein hört' ich leise rauschen, Dann schweigen. Am Waldesspitz, am schatt'gen Buchensaum Blinkte sie schlau Und winkte mit den Hörnchen um die Ecke: "Schau!" Und wie ich folgte der geheimen Weisung, Was sah ich dort? Was nicht vermag zu malen und zu schreiben Ein Menschenwort. Unter dem Riesenkuppeldachgewölbe Ein Säulengang Führte durch dämmerfeierliches Dunkel Dem Weg entlang. Rings Bogenfenster, Nischen und Altäre, Mit Laub bekränzt, Umhaucht von warmem Weihrauch, und von Luftstaub Blendend umglänzt. Am Dach, am Fries, an den polierten Pfeilern, Am Weggestein: Fackeln und Feuertöpf' und Hängelampen Mit Flammenschein. Und siehe, aus den Nischen, aus den Krypten Durchs Waldestor Kamen viel himmelblaue Sonnenjungfraun Leuchtend hervor. In gleichem Abstand zwischen den Pilastern Am Wegesrand Stellten sie sich zu schimmernden Kolonnen Im Glanzgewand. Dann warfen sie mit schnellen Armesschwüngen Der Gegenschar Über den Weg die balsamduft'gen Schleier Zum Fangen dar. Und mit gezückten Schleierschlägen reizend Den Schmetterling, Riefen sie neckisch aus den blauen Augen: "Spring!" Und einesmals mit plötzlichem Entflammen Schwang er sich auf Und unterschlüpft' und übersprang die Netze Mit jähem Lauf. Er blitzte durch die dämmerdunklen Hallen, Ein funkelnder Saphir; Dann unverseh'ns erscheinend auf dem Rückweg Kam er zu mir. Vor Dank und Wollust lächelte sein Wesen Selig und gut. Dann trieb ihn wieder fort zum mut'gen Spiele Sein edles Blut. Doch als er siebenmal mit schnellem Schweben Durchreist die Feuerspur, Jauchzt' er: "Man mißt nicht unser Glück und Leben Nach Menschenuhr. Und wenn man fragte, welcher von uns Beiden, Du oder ich, Sei zu bedauern oder zu beneiden - Sprich!" Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 37 – 39
blauer Sonnenjungfraun von Maria Sibylla Merian (1647 – 1717)