Engel im Walde Ich aber traf ihn nachmittags im Wald. Ein Wunder, das durch Buchenräume ging, So menschenfern, so steigend die Gestalt, Dass blaue Luft im Fittich sich verfing; Das Antlitz schien ein reines, stilles Leid, Sehr sanft und silbrig rieselte das Haar, In großen Falten schritt das weiße Kleid. Er schaffte nichts, er sagte nichts; er war. Und nichts an ihm, was schreckte, was verbot, Und dennoch: keines Sterbens Weg genoss, Daß meine Lippe, ob auch unbedroht, Erstaunten Ruf, die Frage stumm verschloss. Ein Blatt entwehte an sein Gürtelband, Vergilbt und schon ein wenig kraus gerollt; Er fing und trug es in der schmalen Hand Wie ein Geschenk aus Bronze und aus Gold. Wer sah ihm zu? Das Eichhorn, rot am Ast, Und Rehe, die das Buschwerk schnell verlor. Und Erlen wanden schon im Abendglast Wie schwarze Schlangen züngelnd sich empor. Er regte kaum die dünne Blätterschicht Mit weichem Fuß. Er hatte ewig Zeit Und zog: wohin? In Stadt und Dörfer nicht; Er wallte außer aller Wirklichkeit. Nicht unsre Not, nicht unser armes Glück, Nur keusche Ruhe barg sein Schwingenpaar Ich folgte nach und stand und blieb zurück. Er brachte nichts, er sagte nichts: er war. Gertrud Kolmar
Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin