Die Fabel von dem Fuchs und dem Sperling sagt von einem, der anderen raten k onnte, aber sich selbst nicht. Und das war so: Es hatte eine Taube ihr Nest auf einer hohen Palme, und immer, wenn sie ihre Jungen ausgebrütet hatte mit großer Arbeit, kam ein Fuchs zu dem Baum und ängstigte sie mit Drohworten so, daß sie ihrer Jungen selbst herunterwarf, um vor ihm sicher zu sein. Einst saß nun die Taube wieder auf ihrem Nest und brütete, da flog ein Sperling auf einen Ast der Palme, und weil er die Taube so traurig sah, sprach er zu ihr: "Nachbarin, was läßt dich trauern, da doch bald deine Jungen ausschlüpfen?" Die Taube aber antwortete ihm "Was freuen mich meine Jungen. Sobald ich sie ausgebrütet habe, kommt der Fuchs und droht mir und bringt mich so in Furcht, daß ich ihm meine Jungen geben, um sicher vor ihm zu sein." Darauf sprach der Sperling: "Rennst du nicht den Trügner, den Fuchs? Folge meinem Rat, und er wird dir ferner nicht mehr schaden." Die Taube antwortete: "Rede, ich folge dir." Und der Sperling sprach: "Wenn der Fuchs kommt und dich schrecken will, so sage ihm: Tue, was du willst, und wenn du lernst, auf diesen Baum zu steigen, so tage ich meine Jungen auf einen andern, aber ich gebe sie dir nicht." Nach einiger Zeit kam der Fuchs, da er dachte, daß die Taube nun ihre Jungen ausgebrütet hatte, und drohte ihr wie immer. Aber die Taube antwortete ihm, was der Sperling sie gelehrt hatte. Da sprach der Fuchs: "Sage mir, wer dir diese Worte gewiesen hat, dann sollst du und deine Jungen sicher sein." Die Taube antwortete darauf: "Das hat der Sperling getan, der am Wasser wohnt." Darauf ging der Fuchs zu dem Sperling, grüßte ihn höflich und sprach: "Lieber Nachbar, wie magst du dich vor Wind und Regen schützen?" Der Sperling gab Antwort und sagte: "Wenn der Wind von der rechten Seite weht, wende ich das Haupt zur linken, und wenn er von der linken Seite weht, kehr ich das Haupt zur rechten und bin so sicher." Darauf fragte der Fuchs: "Wenn aber ein Wetter kommt, daß von allen Seiten Wind bringt, wie birgst du dich dann?" Der Sperling antwortete ihm, dann stecke ich mein Hupt unter die Fittiche. Da sprach der Fuchs: "Selig seid ihr Vögel, von Gott mehr als alle anderen Geschöpfe begabt. Ihr fliegt zwischen Himmel und Erde so schnell, wie kein Mensch und kein Tier laufen kann, und kommt überall hin, wo sonst niemand hingelangen kann. Dazu sollt ihr noch die Gnade haben, euer Haupt unter den Flügeln zu bergen, daß euch kein Ungewitter schaden kann. Das mag ich nicht glauben, ehe du mir es nicht zeigst." Und der Sperling wollte seine Kunst weisen vor dem Fuchs und steckte seinen Kopf unter die Flügel. Da sprang der Fuchs zu, ergriff ihn und sprach: "Du bist dir selbst ein Feind. Der Taube konntest du guten Rat geben, aber dir selbst kannst du nicht raten. Und dann fraß er ihn.
aus: „Bidpai – das Buch der Beispiele alter Weisen“ Eine altindische Fabel- und Novellensammlung nach der deutschen Übersetzung einer Handschrift des 15. Jahrhunderts. Seite 109 – 110