Seidenspinner Ich maß den Berg mit meinem Blick und sprach: "Ich werd's erreichen!" Dann faßt' ich einen heiligen Entschluß niemals zu weichen. Daß ich am Wege Leichen liegen seh', soll mich nicht hindern. Und weder Müh noch Not noch Mißerfolg den Eifer mindern. - Dornen und Spott und Haß verletzten mich und rissen Wunden. "Droben am Gipfel, in der Siegesluft werd' ich gesunden." Dummheit in eklen Haufen, dick und zäh sperrte die Pforten. Da wusch ich mich und öffnete mir Bahn an reinern Orten. Ich stürzt' am Ziel, fragt nicht, wie das geschah, in eine Falle. Da waren eines einz'gen Mals zerschellt meine Hoffnungen alle. Das Herz betrübt, der Mut geknickt, gelähmt des Geistes Schwingen, Und keine Willensstärke reichte mehr den Sieg zu zwingen. Da lag ich nun im Grab und konnte nicht die Glieder rühren Und ohne Schmerzen nicht mein eigen Selbst denken und spüren. Ob meinen Häupten sah ich schön und groß das Leben blenden; So weh' mir's tat, ich mochte nie davon die Blicke wenden. Es kroch zu mir ein Vögelein und sprach: "Darf ich dich lieben?" Da drückt' ich beide Augen zu und stöhnte: "Nach Belieben." Sie fühlt' und litt all meinen Kummer mit tief im Gemüte, Verzieh mir jedes, trug und duldet' es mit Weibesgüte. - "Wie kann ich einst, du gutes Vögelein, dir dieses lohnen?" Da schmeichelt' und begehrte sie: "Allein um dich zu wohnen!" Daß ich an ihr vorbei nach oben sah, dient ihr zum Neide; Und einen Namen nannt' ich oft im Traum zu ihrem Leide. Sie spann um mich ein feines Seidenhaus, die Welt zu schließen Und ohne fremde Augen mein Geseufz auszugenießen. Schon hatte sie mit Fleiß und viel Geduld und Mut und Dauer Das Haus versperrt, und blieb allein ein Spalt im Dach der Mauer, Da schaute sie auf meinem Angesicht Verzweiflung stehen Und sah mich heimlich nach dem lichten Spalt den Hals verdrehen. Plötzlichen Eifers eilte sie geschwind und kurz entschlossen Und riß mit hast'ger Arbeit wieder ein, was sie verschlossen. Und als nun neuerdings das böse Licht blendete offen, Lächelte sie mit innigem Liebesblick: "Hab' ich's getroffen?" Da rief ich heftig: "Komm doch einmal her! laß dir bekennen: Ich will mich fortan deinen schlechten Knecht, dich meinen Engel nennen!" Carl Spittlerer
Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem
aus: „Schmetterling, Gedichte“ von Carl Spitteler. Verlag: Diederichs, Jena, 1920. Seite 31 – 32
Seidenspinner von Maria Sibylla Merian (1647 – 1717)