Furchtlos

Sein Atem war Muschelrauschen in Stille

Fruchtlos

Die Frauen des Westens tragen den Schleier nicht.
Die Frauen des Ostens legen ihn ab.
Ich möchte mein Antlitz mit dunklem Schleier verhüllen;
Denn es ist nicht schön mehr zu schauen, nicht lieblich
mehr, denn es ist graulich und rissig wie Steine
morschen, erkalteten Herdes.
Mein Haar stäubt Asche.
So will ich warten allein in Dämmerung auf schmaler,
hochlehniger Bank,
So will ich sitzen, da zögernd Nacht um mich sinkt,
Ein schwarzer Schleier.
Ich ziehe ihn um mich und bedecke mein Gesicht.
Doch meine Augen starren . . .

Ich sehe. Ich fühle :
Durch die verschlossene Tür tritt lautlos ein Kind.
Das einzige, das mir zubestimmt und das ich nicht geboren.
Nicht geboren um meiner Sünde willen; Gott ist gerecht.
Und ich schweige, und murre nicht, ich trage und berge
das Haupt, und so darf ich es suchen
Manchen Abend.
Ein Knabe.
Nur dieser eine : zart, stumm und flehend, mit weichen
düsteren Locken,
Unter braunlicher Stirn die fremden graugrünen Meeraugen
dessen, den ich geliebt, den ich immer liebe.
Er fürchtet mich nicht, bebt nicht zurück vor dem Schmeicheln
der welken Lippen und Hände.
Er naht, und sein blauer Sammet rührt meinen Arm, und
seine spielenden kleinen Finger greifen nach meiner Seele
Und tun ihr weh.
Zuweilen bringt er mir seine Murmel, die finstere, golden
geäderte, Tigerauge genannt,
Oder auch eine Blume, blasse Narzisse,
Oder auch eine Muschel, rötlich mit Warzen; er hebt sie
sacht an mein Ohr, und ich höre dem Rauschen zu.
Einst
Um die Hälfte der Nacht, der Winternacht,
Erwacht ich und schaute durch Schatten:
Der mich liebte, ruhte auf meinem Lager und schlief.
Sein Atem war Muschelrauschen in Stille.
Ich lauschte.
Und er schlummerte tief, so geborgen in meiner Liebe
Unter Träumen: sie falteten über ihm Flügel, purpurn wie
Saft des besamten Granatapfels, den wir geteilt.
Friede.
Und ich war glüklich und hob mich und saß, innig betend,
Und neigte wieder das Angesicht und hielt es mit Händen
und stammelte Dank um Dank.
Aus meinem Blut
Knospete eine Rose ...
Das war die Keimnacht,
Die Segen wollte, Nacht der ungeflüsterten Bitte, doch ich
empfing dich nicht.
Sieh deine Mutter weinen ...
Auch du wirst sterben.
Morgen werde ich einen Spaten nehmen, unter die
Schneebeersträucher gehen und dich begraben.

Gertrud Kolmar

Gertrud Käthe Cohdziesner (1894 -1943? ermordet in Ausschwitz), deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin